Doping:Die Sportärztin, die zu viel weiß

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Kronzeugin und Künstler: Xue Yinxian (links) und Sohn Yang Weidong - ganz rechts auf einem Foto, in dem er sich über die Regierung belustigt - in ihrem Apartment in Peking, das sie im vergangenen Sommer verließen.

(Foto: Sim Chi Yin/Laif)

Xue Yinxian sprach als Erste über staatlich gelenktes Doping in China. Als die Repressalien unerträglich wurden, floh sie nach Deutschland - mit 79. Ein Besuch in der Asylunterkunft.

Von Thomas Kistner und Johannes Knuth

Das erste Flüchtlingslager hatte alles, was sie zunächst brauchten, sagt Xue Yinxian. Bloß die Zimmertür ließ sich nicht abschließen. Xue klemmte stets einen Tisch vor den Eingang. Einmal rüttelte jemand an der Tür. "Wer ist da?", rief sie. Der Besucher hielt inne. Dann war er weg.

Seit Kurzem lebt Xue in einer neuen Unterkunft, in einem Zimmer mit einer Tür, die sich abschließen lässt. Der Raum auf 15 Quadratmetern ist alles, was in ihr neues Leben passt: Bett, Holztisch, darauf eine Plastikflasche mit Zitronenwasser, ein Kochtopf mit Weißkohl, Tomaten, Zwiebeln, Sojasoße. Auf einem grauen Spind ruht der einzige kleine Luxus, den sie sich gönnen. Xue hat ihn gekauft, nachdem sie nach Deutschland kam, mit ihrem Sohn und dessen Frau. "11-teiliges Kochtopfset" steht auf dem Karton. Die Chinesen verzeihen manches, aber kein schlechtes Essen.

Xue trägt graue Stoffhose und Turnschuhe, hinter einer Brille ruhen zwei wache Augen. Sie redet oft mit den Händen, schwingt sie wie ein Zepter durch die Luft, wenn sie wütend ist. Wenn sie mal nicht gestikuliert, füllt sie die Pappbecher der Gäste mit Zitronenwasser auf. Am Ende hat sie fast fünf Stunden erzählt, warum es sie im Sommer von ihrem Leben als Ärztin im chinesischen Hochleistungssport in ein Asylheim verschlagen hat, irgendwo in Deutschland, mit 79 Jahren. Den Ort soll man nicht nennen. Die Familie ist raus aus China, aber in Sicherheit ist sie noch nicht.

Ab 1980 sollten die Ärzte fast alle Sportler dopen - Xue weigerte sich beharrlich

Xue Yinxian und ihre Familie hüten eine Geschichte, die vor fünf Jahren an die Öffentlichkeit sickerte und, wenn es nach den Oberen in Xues Heimat geht, niemals ans Licht hätte kommen dürfen. Sie handelt vom Betrug, und wie der organisierte Sport diejenigen behandelt, die sich dagegenstemmen. Sie handelt davon, was man verlieren kann, Gehalt, Arbeit, Mann, die Gesundheit. Sie handelt von der Flucht in eine fremde Kultur. Geblieben sind ihr 15 Quadratmeter im Asylheim und die Hoffnung, dieser Zwischenwelt bald zu entfliehen. Und das Gefühl, irgendwie das Richtige gemacht zu haben in einem kranken System.

Xues erstes Leben war unkompliziert und klar. Der Vater stützte die Kommunisten, er war Grenzwächter in der Mandschurei, die Mutter Lehrerin. Xues Lehrer empfahlen ihr die Sporthochschule in Peking, sie ging mit Bestnoten ab. Absolventen durften sich Stellen damals nicht aussuchen, Xue wurde 1963 in die Staatliche Sportkommission versetzt, kümmerte sich als Ärztin um die besten Athleten des Landes. Bald hatte sie 30 Ärzte und elf Riegen unter sich, Leichtathleten, Gewichtheber, Basketballer, Volleyballer, Schwimmer, Fußballer. Und die Turner, mit denen reiste sie oft zu Turnieren. Es war wie an der Uni: Fleißig sein, arbeiten, dann gewinnt man auch im Sport.

Dachte Xue.

Ende der 70er-Jahre schwappten erste Berichte nach China. Chen Zhanghao, der Chefarzt der Sportkommission, hörte, dass ausländische Athleten gewisse Mittel nahmen. Er reiste nach Frankreich, von April bis Juni 1979. Als Chen zurückkam, erinnert Xue sich, "hat er sich aufgeführt, als habe er selbst Doping genommen". Er sei durch alle Riegen gegangen, habe erzählt, wie die Wundermittel die Sportler langsamer ermüden und schneller regenerieren ließen. Er drängte die Trainer und Ärzte, alle Athleten zu dopen, sagt Xue. Ein Mittel der ersten Stunde: Testosteron. Wer sich weigerte, verlor seine Arbeit, also machten die meisten Ärzte mit. Xue war eine der wenigen, die sich weigerten. "Ich hatte viele Berichte aus dem Ausland gelesen", über Nebenwirkungen und Todesfälle. Ihre Turner dopten erst mal nicht. Sie behielt trotzdem ihren Job; Xue war beliebt bei Sportlern, weil sie Verletzungen rasch erkannte und behandelte. Aber sie spürte, dass immer stärkere Kräfte gegen sie arbeiten, wie ein Körper, der einen Erreger abstößt.

Ab 1980, sagt Xue, waren die meisten Athleten gedopt. "Es war eine neue Welt."

Der Chefarzt Chen hatte bald einen neuen Verbündeten, Li Furong, den Vize des Sportverbands. Gemeinsam, sagt Xue, erforschten sie Dopingmittel, zunächst Testosteron, Steroide, Wachstumshormone. Dann kombinierten sie es mit chinesischer Medizin. Mitte der 80er hatten sie eine eigene Waffe. "Dalibu", wörtlich: Großer Kraft-Ergänzer, ein Mix aus Steroiden und heimischem Stoff. Die Sportler wurden kräftiger, angriffslustiger. "Das ist nur zu Dopingzwecken entwickelt worden", sagt Xue, "das findet man auch nicht bei Dopingtests." Chen habe es überall gepriesen, von Peking bis in die Stützpunkte der Provinzen: Wer Dalibu nicht einnehme, brauche gar nicht weiterzumachen, hieß es.

Xue Yinxian sah, wie Mädchen mit neun, zehn Jahren in die Turnerriege kamen, die Jungen mit elf, zwölf. "Die Mittel wurden auch ihnen gegeben", sagt sie, unter dem Vorwand, es seien Nahrungsergänzungsmittel. "Nachdem sie das eingenommen haben, waren viele von ihnen mit 13 schon international zweitklassige Sportler." Kurz vor den Olympischen Spielen 1988 in Seoul kam ein Junge zu ihr, ein Bodenturner, ihm waren Brüste gewachsen.

Die Regierung hatte wohl vom Doping zunächst nichts mitbekommen, aber als sich in den 80er-Jahren die Medaillen häuften, hievte sie die Urväter des Erfolgs in staatliche Würden: Chen und Li. China war im Aufbruch, Sport und Rekorde wurden zum Synonym für Aufstieg. "Chen hatte auf alle Fälle Rückendeckung vom Staat", sagt Xue. Die Haltung der Regierung sei immer so gewesen: "Solange du nicht erwischt wirst, bist du ein guter Sportler. Die Regierung will bloß Goldmedaillen vorweisen, egal mit welchen Mitteln." Auf SZ-Anfragen, ob Chen und Li das Doping koordinierten und die Regierung davon wusste, reagierten weder die staatlichen Behörden noch die Sportkommission.

Es war also wie in der DDR. Wie in Russland, dessen Sumpflandschaften seit 2014 aufgedeckt werden. Und gar nicht so anders wie in der BRD, wo der Kampf gegen den Osten ebenfalls mit pharmazeutischer Infamie geführt wurde, geduldet von staatlicher Seite. Oder wie in den USA, wo bei Olympia 1984 sogar Positivproben unter mysteriösen Umständen verschwanden.

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