Um 22:40 Uhr tönte ein gewaltiger Aufschrei aus dem Leverkusener Stadtteil Bürrig in die Welt, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Xabi Alonso, der smarte und eigentlich gar nicht laute Bayer-04-Trainer, einige Dezibel beigesteuert hatte. Den Schlusspfiff von Schiedsrichter Daniel Schlager beging der spanische Coach mit einer Jubelfaust, die Freude und Anspannung in den Nachthimmel entlud. Bayer 04 hatte sich im Viertelfinal-Pokalspiel gegen den VfB Stuttgart nach zweimaligem Rückstand doch noch 3:2 durchgesetzt, Verteidiger Jonathan Tah gelang in der 90. Minute das entscheidende Tor in einem Spiel, das lange offen ließ, wer es als Sieger oder Verlierer beenden würde. Der VfB war ein weitgehend ebenbürtiger Gegner, aber Bayer war die Spur besser, die den Sieg verdient erscheinen ließ.
"Es fühlt sich brutal gut an. Gerade in so einem Spiel gegen so einen Gegner, der uns sehr große Probleme bereitet hat. Das gibt uns viel Energie und positive Hoffnung für alles, was jetzt noch kommt", sagte Tah in der ARD. Am Samstag empfängt Leverkusen in der Bundesliga als nun in 30 Pflichtspielen dieser Saison ungeschlagener Tabellenführer den FC Bayern.
Das erfolggewohnte Publikum in der Bayarena erblickte während der ersten Halbzeit ungewohnte Bilder. Man sah Xabi Alonso am Spielfeld stehen wie jemand, der nicht kapiert, was dort geschieht. Hatte er Chinesisch gesprochen in der Mannschaftssitzung vor dem Spiel? Dieses Bayer 04 ähnelte nur entfernt dem Bayer 04, das er seit August zum Tabellenführer und zur führenden Kulturanstalt im deutschen Fußball erzogen hat.
Bundesliga:Der VfB tanzt mit gefesselten Füßen
Beim VfB Stuttgart läuft gerade ein großes Liga-Experiment: Ein Traditionsklub versucht, nach einem chaotischen Jahrzehnt auf eine neue sportliche Ebene zu kommen - inklusive unerwünschter Geschäftsmodelle.
Statt den Ball in den gewohnten schnellen Passfolgen zirkulieren zu lassen, ließen sich Alonsos Spieler in Zweikämpfe verstricken, zu Sololäufen und Fehlpässen verleiten. Granit Xhakas ordnende Hand griff ins Leere. Mitunter wirkte der Souverän im Bayer-Mittelfeld ein wenig ratlos. Die Stuttgarter hatten allerdings am umständlichen Leverkusener Vortrag keinen geringen Anteil. Sie hatten sich kompakt in ihrer Hälfte postiert, Viererkette vor Fünferkette, und leisteten konzentriert Widerstand. Als Robert Andrich den VfB-Kollegen Atakan Karazor rüde von den Beinen holte, sah das schon eher nach einem Signal an die Mitspieler aus, endlich aufzuwachen - das falsche Signal war es trotzdem. Die Gelbe Karte nötigte den Kämpfer Andrich fortan zur Vorsicht.
Die allgemeine Verunsicherung nahm nicht ab, als der VfB in der zwölften Minute in Führung ging. Wieder hatte es einen Fehler in der Bayer-Systematik gegeben: Edmond Tapsoba ließ Waldemar Anton entwischen, als ob er sich bei der Verfolgung im Wald verlaufen hätte.
Bayer wurde mit der Zeit stärker, das schon, aber der VfB ließ die Hausherren nicht ins Tempo kommen, nur szenenweise blitzte die geübte spielerische Dynamik auf. Einmal prüfte Patrik Schick den Torwart Alexander Nübel aus kurzer Distanz, ein anderes Mal hatte der VfB Glück, als Hiroki Ito im Strafraumtackling zu spät gegen Jeremie Frimpong einstieg und Schiedsrichter Daniel Schlager den möglichen Elfmeter verweigerte. Aber auch die Stuttgarter begnügten sich nicht damit, den gegnerischen Spielfluss zu stören. Die Gelegenheit zum 2:0 ließ Karazor jedoch liegen, als er den von Pokal-Torwart Matej Kovar irrtümlich hergeschenkten Ball mit einem harmlosen Schüsschen zurückschenkte.
Andrich spielt gelb-rot-gefährdet weiter - und schießt ein Traumtor
Andrich betrat auch in der zweiten Hälfte den Rasen, eine Auswechslung wäre wegen der gelben Karte und einigen spielerischen Mängeln nicht unplausibel gewesen. Aber Xabi Alonso durfte sich bald auf die Schulter klopfen, denn eben jener Andrich besorgte mit einem Fernschuss der Marke Traumtor den Ausgleich (50.) - um keine zehn Minuten später mit einem Ballverlust am Strafraum die nächste Stuttgarter Führung einzuleiten (58.). Chris Führich, der ansonsten einen zähen Abend erlebte, nutzte seine Chance gekonnt.
Doch der VfB kam nicht dazu, auf seiner Führung ein Spiel aufzubauen, das Leverkusen überfordert hätte. Florian Wirtz, der ohnehin unentwegt jeden Quadratmeter des Rasens bereiste, um das Spiel in Gang zu bringen, hatte etwas dagegen. Sein Pass aus der eigenen Hälfte erreichte den soeben eingewechselten und nun rettungslos enteilten Amine Adli, und dessen keineswegs platzierten Schuss ließ Nübel zum 2:2 ins Netz rutschen (66.).
Bayer hatte im Schlussviertel mehr zu bieten als der allmählich ermattende VfB, doch die großen Gelegenheiten ergaben sich nicht mehr. So dauerte es bis zur 90. Minute, bis Jonathan Tah mit starkem Timing den finalen Kopfball setzte. Die Vorlage stammte selbstverständlich von Florian Wirtz, locker aus dem Fußgelenk und präzise auf den Punkt wie programmiert.