Länderspiel:Die Franzosen lieben ihre "Bleus" wieder

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Antoine Griezmann (li.) und Kylian Mbappe (re.) bilden wohl auch gegen Deutschland die hochgelobte Offensive der Franzosen. (Foto: AFP)
  • Frankreich ist das neue Brasilien des Fußballs. Die Talente der Grande Na­tion werden von der halben Welt umworben.
  • Die Franzosen blicken mit Verzückung auf ihre neue goldene Fußballjugend, nach dem Streik bei der WM 2010 hatten sich viele von der Équipe Tricolore entliebt.
  • Doch schon werden die Debatten von damals laut, das Team schieße, gemessen an seinem Talent, zu wenig Tore.

Von Oliver Meiler

Wahrscheinlich ist es Glück. Ein wenig höhere Fügung ist wohl auch dabei. Ist Gott nicht Franzose? Mit viel Verwunderung und noch mehr Verzückung blicken die Franzosen auf ihre neue "Jeunesse dorée", ihre goldene Fußballjugend, diese Schar sehr junger, sehr gut ausgebildeter Spieler mit sehr hohem Marktwert. Umworben werden sie von der halben Welt. Frankreich ist das neue Brasilien, die Rekrutierungszentrale des Fußballs, wenigstens in diesem präzisen Moment. Von den vier teuersten Transfergeschäften in der Geschichte dieses Sports handelten drei von Vertretern der neuen französischen Generation. Nur die Dienste des Brasilianers Neymar kosteten noch mehr als jene von Kylian Mbappé, 18, Ousmane Dembélé, 20, und Paul Pogba, der mit 24 Jahren fast schon Veteran ist.

Trainer Didier Dechamps ist der konservative Verwalter des großen Schatzes

Am liebsten wäre es den Franzosen natürlich, wenn ihre jungen Lieblinge auch im Nationalteam zusammenspielen würden - alle, sofort, immer. Ohne langes Integrieren und Tarieren. Eine solche Generation, sagen sie, wird uns so schnell nicht wieder gegönnt sein, und das Glück gehöre ausgekostet, solange es anhalte. Doch der Trainer der "Bleus", der Baske Didier Deschamps, sieht das etwas anders. Er möchte die Jugend vorsichtig heranführen, ihre Einsätze dosieren, ihren ungestümen Drang mit der Gelassenheit der Älteren mischen. Eigentlich ganz vernünftig. Der Generationswechsel aber ist bereits passiert: Wenn alle fit sind, dann beträgt das Durchschnittsalter des Stammkaders 22,5 Jahre. Von allen Teams, die sich für die WM in Russland qualifiziert haben, ist das französische damit wohl das jüngste.

Eine Revolution mit Umsicht also - so etwas muss man auch einmal hinbekommen. Deschamps, den sie in Frankreich "DD" nennen (ausgesprochen: Dédé), wird stattdessen ständig kritisiert: Zögerlich sei er, heißt es, ein konservativer Verwalter dieses großen Schatzes, den er da in den Händen halte. Doch "DD" ist eher ein Glücksfall für den französischen Fußball.

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Als er 2012 die "Sélection" übernahm, hatten sich die Franzosen gerade nachhaltig von der Nationalmannschaft entliebt. In den Köpfen war jene surreale Szene haften geblieben, die sich in Knysna/Südafrika zugetragen hatte, wo die Bleus während der WM 2010 wohnten und trainierten. Einige besonders schnöselige Mitglieder einer sehr schnöseligen Mannschaft hatten sich aus Protest gegen den damaligen Trainer Raymond Domenech geweigert, den Bus zu verlassen, um zu trainieren.

Évras "High Kick" als Schwanzschlag der alten Generation

Der "Streik von Knysna", mittlerweile ein stehender Begriff mit eigenem Eintrag bei Wikipedia, war nicht nur peinlich: Er galt auch - und vielleicht übertriebenermaßen - als Spiegelbild der französischen Gesellschaft, die, wie es hieß, ihren Sinn für das Kollektive verloren habe. Die Politik schaltete sich ein, der Jammer war groß. Früher war man stolz auf die Großleistungen einer multikulturellen Mannschaft, die auf den Dreiklang "Black-blanc-beur" reimte, "Schwarz-weiß-arabisch", und als Beleg für eine gelungene Integration galt. Nun wirkten die Blauen plötzlich wie eine Vorstadtgang, die es zu Geld gebracht hatte. Sie protzten und prahlten, der Presse begegneten sie mit Hochmut.

Der stille Deschamps stammte aus der Vorgängergeneration, die Weltmeister und Europameister geworden war. Die Attitüden der Schnösel waren ihm fremd. Doch er holte einige der "Streikenden" zurück ins Team. Patrice Évra etwa, den Außenverteidiger, der damals Kapitän war. Évra hatte sich in den unrühmlichen Stunden von Knysna beinahe mit dem Konditionstrainer geprügelt, man musste die beiden mit Gewalt trennen. "DD" hielt dennoch an ihm fest, bis vor einem Jahr. Nun ist Évra mit 36 Jahren über sich selbst gestolpert: Einen schimpfenden Fan von Olympique Marseille, seinem letzten Verein, traktierte Évra unlängst mit einem so genannten "High Kick" an den Kopf, einem Schlag aus dem Repertoire des Thai-Boxens, und wurde dafür lange gesperrt. Marseille entließ ihn umgehend.Bei der Gelegenheit erinnerte man sich in Frankreich wieder an den Tiefpunkt in Südafrika: Évras "High Kick" als Schwanzschlag der alten Generation.

Nun liebt man sie wieder, die "Bleus". Keiner der Neuen eckt mit arroganter Attitüde an, und vielleicht ist das das größte Verdienst von Deschamps. Von den Spielern wird er respektiert, obschon seine Entscheidungen auch mal unorthodox sind. Zuweilen belässt er sogar Mbappé, den Posterboy der Jeunesse dorée, auf der Bank, und das ist ein mittleres Sakrileg. Mbappé war elf, als sie in Knysna streikten. Der schmächtige Bub aus Bondy, einer Banlieue von Paris, wurde gerade in das Leistungszentrum des Verbands in Clairefontaine aufgenommen, fünfzig Kilometer von daheim entfernt. Man nannte ihn "Mbébé", weil er schon als Kleiner mit den Größeren spielte, um sich nicht zu langweilen. Überhaupt: Paris. Eine Reihe von Talenten kommt aus der Hauptstadt, und auch das gehört zum Mysterium rund um diese neue Generation. Paul Pogba ist Pariser, Benjamin Mendy auch, Kingsley Coman, Adrien Rabiot, N'Golo Kanté, Anthony Martial - alles Namen, die man kennt.

Gegen Deutschland fehlen an diesem Dienstag in Köln etliche Stammspieler wegen Verletzungen, auch Olivier Giroud, der Mittelstürmer, 31. Der kommt unter DD oft zum Zug, obschon er in seinem Verein FC Arsenal nicht mehr erste Wahl ist. Dort spielt stattdessen Alexandre Lacazette, ebenfalls französischer Internationaler, den aber der Coach nicht zu mögen scheint. In Köln sollte jetzt neben Mbappé und Antoine Griezmann entweder Lacazette oder Martial spielen. Die Bestellung der Offensive sorgt dann auch immer für die größten Debatten in Frankreich. Es herrscht die Meinung vor, die Mannschaft schieße viel weniger Tore, als es das Talent, der Wirbel, das Tempo, dieser ganze Strudel vorne eigentlich vermuten liesse.

Und so fragte die Sportzeitung L' Équipe vor einigen Tagen schier ketzerisch: "Brauchen die Bleus Karim Benzema?" Der Name des Mittelstürmers von Real Madrid hört sich wie das Echo aus einer anderen Zeit an. Benzema war einer der Streikenden, damals, in Knysna. Seit einigen Jahren ermittelt die französische Justiz, ob er in einen Erpressungsfall mit einem Sexvideo verwickelt sei. Keine schöne Geschichte. Er streitet alle Schuld ab. Am Sonntag trat er am Fernsehen auf und beklagte sich über Deschamps. Solange der Trainer sei, sagte Benzema, habe er keine Chance, wieder aufgeboten zu werden. Das ist gut möglich und bitter - mit 29. Anderswo wäre einer wie Benzema mit 29 in der Blüte seiner Karriere.

© SZ vom 14.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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