Deutschland gegen Ghana bei der Fußball-WM:Positive Energiefelder überall

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Entpannungsübungen vor dem Duell mit dem Halbbruder: Jérôme Boateng geht gelassen ins Spiel gegen Ghana. (Foto: dpa)

Vor dem zweiten Gruppenspiel der deutschen Elf lässt sich einiges voraussagen: Der Spielmacher ist trotz des genialen Mesut Özil abgeschafft, in der DFB-Auswahl spielt der richtige von beiden Boatengs - und nicht alle ghanaischen Spieler vertragen die Hitze besser als die Deutschen. Sieben Prognosen zum zweiten WM-Spiel.

Von Philipp Selldorf, Fortaleza

Wird Thomas Müller wieder Torschützenkönig der WM?

Thomas Müller ist der beste Müller in der Nationalelf seit Hansi Müller und Andreas Möller, aber ob er auch ein neuer Gerd Müller ist, wie jetzt vielfach behauptet wird, das muss bezweifelt werden. Drei Tore gegen Portugal sind eine feine Sache, "das schadet dem Projekt nicht", wie Müller nach dem Spiel feststellte, doch wenn man sich die drei Treffer etwas genauer anschaut, dann glänzen sie nicht mehr ganz so golden: Der erste war ein Elfmeter, der zweite ein schrulliger Schuss in die Tormitte, der dritte ein Fünfmeterraum-Abstauber nach Torwartfehler. Andererseits: Die Coolness muss man erst mal haben, um den Elfmeter zum lebenswichtigen 1:0 zu verwandeln, nach dem Kopfball-Tor von Mats Hummels hat Müller beim 3:0 seinem Widersacher mit genialem Spürsinn den Ball entwendet, und das 4:0 war die maßstabsgetreue Originalnachbildung eines Gerd-Müller-Abstaubers.

Thomas Müllers unorthodoxes Spiel verweigert sich den eindimensionalen Bewertungen und bietet alle Zutaten für einen internationalen Experten-Streit. Und richtig: Die Experten widersprechen sich bereits leidenschaftlich. "Müller hat mich bisher am meisten überzeugt", hat der große Arsène Wenger gelobt, während der große José Mourinho ungefähr das Gegenteil meinte: "Portugal war doch viel zu schwach."

Auch Mourinho lobt Müller ("unglaublich dynamisch", "einzigartiger Torinstinkt"), doch es ist ein Lob unter Vorbehalt. Erst mal will er Müller gegen ein Team sehen, das kompakt steht und besser verteidigt als die nervlich zerzausten und numerisch geschwächten Portugiesen, und hier trifft sich die Expertenmeinung von Mourinho mit der Expertenmeinung von Müller. "So viele Räume kriegt man nicht immer", hat dieser gesagt.

Bastian Schweinsteiger bei der WM
:Ein wunderbarer Partner zum Reden

Auch wenn er noch nicht gespielt hat, ist Bastian Schweinsteiger für Joachim Löw unverzichtbar. Er werde noch sehr wichtig für das deutsche Team, kündigt der Bundestrainer an - doch Sami Khediras Fitness könnte zum Problem des Münchners werden.

Von Saskia Aleythe

Vor dem Spiel gegen Portugal galt die Leerstelle im deutschen Angriff als der große Schwachpunkt im Kader. Nach dem Spiel gegen Portugal brach plötzlich die große Sorglosigkeit aus, und es hieß überall, dass Deutschland wieder einen Angreifer hat, der zwar kein Mittelstürmer und nicht mal ein richtiger Stürmer, aber trotzdem ein unwiderstehlicher Torjäger ist. Wahr ist aber: Leerstelle bleibt Leerstelle.

Hat Özil keine Heimat mehr?

Aus Sicht von Mesut Özil ist der Bundestrainer ein Umweltverbrecher. Joachim Löw hat bei dieser WM den natürlichen Lebensraum von Mesut Özil vernichtet, indem er die Nummer zehn aus seinem System gestrichen hat. In der Ordnung des ersten Spiels kommt die angestammte Position des Spielmachers nicht mehr vor, die Rolle, in der sich Özil seit jugendlichen Tagen zu Hause fühlt, hat Löw ins Kollektiv überführt. In der Offensive sollen alle Spieler alle Rollen annehmen, die Offensive soll ein Ort der ständigen Bewegung und Gegenbewegung sein; Müller, Götze und Özil sollen in fließendem Rhythmus unentwegt die Standorte wechseln und sich dabei gegenseitig ersetzen.

Für Özil bedeutet das einen Bruch der Lebensgewohnheiten, im neuen Leben muss er sich erst einrichten. Die Mitte des Spiels steht ihm zwar immer noch frei zur Benutzung, aber es ist jetzt so, dass der Ball nicht mehr zu ihm kommt. Stattdessen muss er zum Ball und zum Spiel kommen. Er muss initiativ werden. Sich Räume suchen zu müssen, ist für einen, der für sein Spiel die Geborgenheit der Heimat benötigt, nicht so einfach. Erst recht dann, wenn er durch Formschwankungen und öffentliche Kritik ohnehin ein wenig eingeschüchtert ist. Die Experten sind sich trotzdem ausnahmsweise einig: Özil könne dank seines technischen Niveaus "immer alleine den Unterschied ausmachen", sagt Arsène Wenger, während José Mourinho lehrt: "Özil spielt gnadenlos gute Pässe, er lässt den Ball lächeln."

Gegen Ghana hat Özil bei der WM 2010 das entscheidende Tor geschossen. Das ist ihm auch diesmal zuzutrauen, denn Özil ist ein genialer Fußballer, weshalb ihm jederzeit alles zuzutrauen ist. Selbst wenn er neuerdings auf Heimatsuche ist.

Hat Deutschland den falschen Boateng?

Deutschland hat Jérôme Boateng, 25, den Verteidiger, der außerhalb des Fußballplatzes eine Brille trägt und damit ziemlich schlau, aber auch ein wenig schüchtern aussieht. Ghana hat Kevin-Prince Boateng, 27, der einen starken Hang zur Extravaganz besitzt und mit einer beneidenswerten Menge Selbstbewusstsein ausgestattet ist. Letzteres gibt ihm an jedem Ort der Welt - egal, ob er sich in Ghana, Gelsenkirchen-Buer oder Brasilien befindet - das Gefühl, ein einzigartiger Fußballer und eine großartige Persönlichkeit zu sein.

Wenn der Bundestrainer die freie Wahl hätte, dann würde er trotzdem den kleinen Bruder nehmen. Den braucht er als schnellen Zweikämpfer in seiner Vorstopper-Abwehr dringender als den großen Bruder fürs Mittelfeld, obwohl dieser glaubt, dass er genau dem charismatischen Spielertyp entspricht, den Deutschland nicht hat und dringend benötigt. Boateng der Ältere hat ja vor der WM erklärt, dass die Deutschen zwar über eine exquisite Mannschaft verfügten, dass ihr aber imponierende Charaktere wie Michael Ballack und Stefan Effenberg fehlten. Das wurde als Versuch der Provokation missverstanden, noch am Donnerstag hat Ersatztorwart Roman Weidenfeller in Santo André die Nation beruhigt: "Kevin hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, aber damit kann er uns nicht reizen - wir ruhen in uns selbst."

Allerdings hat Kevin-Prince Boateng nur das Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen, und darüber hinaus stimmt es ja: Es gibt keine Effenbergs und keine Matthäusse mehr im Nationalteam. Dafür gibt es Khedira, Lahm, Müller, Neuer, Hummels und noch ein paar andere, die etwas zu sagen haben. Lücken hat das deutsche Team an anderer Stelle.

Bei der Ankunft der Deutschen am Donnerstagabend um kurz vor Mitternacht waren es 27 Grad in Fortaleza. Am Spieltag werden mehr als 30 Grad erwartet. Na und? Solche Temperaturen kommen auch an Bundesligaspieltagen vor, doch man muss zugeben: Bundesliga und Brasilien, das ist zweierlei. In Salvador saß man auf der Tribüne und hat gedacht: Es ist warm, aber gut erträglich, doch unten auf dem Platz stand Per Mertesacker in der Sonne und hatte "das Gefühl, dass die Zehen brennen". Mertesacker ist seit mehr als zehn Jahren Profi, doch solche Hitzewallungen wie in Salvador habe er noch nie gehabt, sagte er.

Philipp Lahms Haupt leuchtete mit dem Anpfiff rot wie ein Feuermelder, die Feldspieler müssten "über einen gewissen Schweinehund hinweggehen", meinte der Roman Weidenfeller mitfühlend. Dass Afrikaner an heißen Spielorten Vorteile hätten, ist eine alte Legende, die immer wieder erzählt wird. Experten wie der deutsche Teamarzt Tim Meyer halten es zwar für möglich, dass die Temperaturen für den einen oder anderen ghanaischen Spieler besser zu verkraften wären, dass aber die bei europäischen Klubs beschäftigten Spieler - zum Beispiel der Afrikaner Kevin-Prince Boateng aus Gelsenkirchen-Buer - ähnliche Voraussetzungen bei der Anpassung ans Klima zu erfüllen hätten.

Ist das zweite Spiel besonders gefährlich?

Im Prinzip ja, es sei denn, das erste Spiel hat noch nicht begonnen. Anders als das erste Turnierspiel ist das zweite Turnierspiel keine Spezialität des Bundestrainers. Bei der EM 2008 brachte das zweite Spiel eine Niederlage gegen Kroatien, dadurch mussten Löw und sein Team im dritten Spiel gegen Österreich die doppelte Katastrophe abwenden: das Ausscheiden während der Gruppenphase und eine Schmach gegen Österreich. Bei der WM 2010 brachte das zweite Spiel eine Niederlage gegen Serbien, weshalb es im dritten Spiel gegen Ghana um Sein oder Nichtsein ging. Ghana erwies sich als zäh, aber zu Löws Glück fehlte dem Gegner der Schuss Raffinesse, den Kroatien 2008 und Serbien 2010 ins Spiel brachten. 2014 liegt Ghana immer noch nicht auf dem Balkan - aber ein zäher Gegner werden die Ghanaer mit Sicherheit trotzdem sein.

Wird Deutschland nach diesem Spiel der große WM-Favorit sein?

Kann sein, ist aber nicht weiter wichtig. Davon bekommen die Spieler in ihrer Campo-Bahia-Idylle am Strand von Santo André ohnehin nichts mit.

Geht es in der Campo Bahia-Idylle zu harmonisch zu?

Die Sorge ist berechtigt. Jeden Tag das Wellenrauschen, liebliche Flötenklänge in der nachbarlichen Pousada sowie ständig das Klackern der Eiswürfel in den Caipirinha-Gläsern, das ist die Begleitmusik des Alltags in der Dorfidylle von Santo André. Gelegentlich knattert ein Motorrad auf der Sandstraße, und manchmal hört man aus dem Zimmer von Oliver Bierhoff Country-Musik - aber das war's auch schon mit den Misstönen. Der Teampsychologe hat stattdessen das Vorkommen von "positiven Energiefeldern" aufgespürt.

Wie üblich wurden die Deutschen auf die Katastrophen eingeschworen, die dem Team im Campo Bahia drohten, doch nun muss das Publikum enttäuscht feststellen: Das Quartier steht, es regnet nicht in die Betten, und es gibt auch keine Tigermücken, die das furchtbare Denguefieber ins Team tragen. Um die Vertreibung von verirrten Giftschlangen und lästigen Eckenstehern von der Boulevardpresse kümmern sich Polizisten und das DFB-Wachpersonal. Auch die Gurus sind zahm wie nie, selbst Peter Neururer und Oliver Kahn.

Vielleicht könnte ein kleiner Spielerfrauenstreit helfen? Den Anfang haben Cathy Fischer (Freundin von Mats Hummels) und Simone Ballack (ehemalige Frau vom ehemaligen Spieler Michael Ballack) gemacht. Das gibt Hoffnung.

© SZ vom 21.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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