Vielleicht muss man den ganzen Wahnsinn noch einmal an Toni Kroos erzählen. Nicht mit dem Freistoß gegen Schweden, sondern mit dem Champions-League-Finale in Kiew. Kroos hat dort seinen vierten Titel in einem Wettbewerb gewonnen, den man als "Königsklasse" bezeichnet, dreimal in Folge mit Real Madrid. Er ist damit der erfolgreichste deutsche Fußballer in der Geschichte dieser Königsklasse, er ist außerdem 28 Jahre alt, und, auch das muss man vielleicht noch mal erwähnen, er ist ein überragender Fußballer.
Toni Kroos stand aber auch unleugbar bei dem wenig überragenden 0:2 gegen Südkorea für Deutschland auf dem Platz und ist damit innerhalb eines Monats Champions-League-Sieger und WM-Verlierer in einem.
Diese Widersprüche muss man aushalten, wenn man über die Zukunft des deutschen Fußballs in Zeiten des Vorrunden-Aus diskutieren möchte. Es ist eine Krise ohne offensichtliche Lösung, denn die offensichtlichste Lösung einer Krise heißt ja immer: neue Strukturen, neue Leute, alles neu. Aber so einfach ist es diesmal nicht.
Rückblick auf die größte Krise des deutschen Fußballs, die Europameisterschaften 2000 und 2004. Auch damals war nach der Vorrunde Schluss und um den deutschen Fußball zu beschreiben, gebrauchte man das Adjektiv "rumpeln". Nach beiden Turnieren wurde das System einmal vom Kopf auf die Füße gestellt. 2000 begriff man, dass man gedanklich Ende der 1980er hängen geblieben war und es vielleicht mal mit Taktik (Viererkette!) und systematischer Nachwuchsförderung versuchen sollte. Nach der EM 2004 übernahmen Jürgen Klinsmann und Oliver Bierhoff und installierten Strukturen, die nicht nur den Rückstand aufholen, sondern dem deutschen Fußball einen Vorsprung verschaffen sollten. Die Spieler Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger, die 2004 ihre erste EM spielten, wurden 2014 Weltmeister.
Wenn alles kaputt ist, fällt es leichter, etwas Neues zu bauen. Aber so sehr man sich auch anstrengen mag: Man kann nach dieser Weltmeisterschaft einfach nicht bilanzieren, dass der deutsche Fußball in Trümmern liegen würde. Dass er justiert werden sollte, das steht allerdings außer Frage. Man kann da grob drei Themenbereiche eingrenzen: Trainer, Mannschaft, Liga.
Ob es eine gute Idee wäre, wenn Löw Bundestrainer bliebe, entscheidet nun Bundestrainer Löw
Dass die Lage grundsätzlich eine differenzierte ist, merkt man schon daran, dass sehr wenige den Reflex haben, "Löw raus" zu brüllen, zumindest nicht der DFB. Präsident Reinhard Grindel verkündete am Flughafen, der Verband stelle es Löw frei, zu entscheiden, ob er weitermachen wolle. Ob es eine gute Idee wäre, wenn Löw Bundestrainer bliebe, entscheidet nun also Bundestrainer Löw. Das Präsidium stehe geschlossen hinter dem Trainer, ergänzte am Samstag Vize Rainer Koch.
Wie wacklig man in dieser Frage dasteht, merkt man schon bei den Überlegungen zu einem möglichen Nachfolger. Der einzige Name, der halbherzig genannt wird, ist Matthias Sammer, weil er gerade verfügbar ist und eine DFB-Vergangenheit hat. Jürgen Klopp, die populärste Lösung unter deutschen Fans (weil Jürgen Klopp immer eine populäre Lösung ist), ist nicht verfügbar. Und bevor jemand auf den Gedanken kommt: Nein. Wirklich. Nein. Es kann nicht immer die Antwort auf alles sein, Jupp Heynckes anzurufen.
Es gibt keinen Bundestrainer auf Abruf, weil es seit zehn Jahren einfach nie zur Debatte stand, dass dieser Job neu zu besetzen wäre. Inklusive 2006 hat der aktuelle Jobinhaber ja sechs leidlich erfolgreiche Turniere zu verantworten. Wenn Joachim Löw also zu dem Entschluss kommen sollte, dass er nicht mehr der Richtige sei, käme wohl eine externe Lösung. Ob es so kommt - das hängt von der Frage ab, ob Joachim Löw der Meinung ist, dass er dem Konstrukt Nationalmannschaft noch mal einen Impuls Richtung Europameisterschaft 2020 oder Richtung Nations League (ein sensationell unbekanntes Turnier der Uefa, das schon in diesem September mit einem Spiel der Deutschen gegen Frankreich in München startet) geben kann.
Und ob er in der Lage ist, aus seinen Fehlern die richtigen Schlüsse zu ziehen. Vor allem dem Verkennen der "Selbstherrlichkeit" (O-Ton Löw) seiner Mannschaft und auch seiner Unfähigkeit, die sich zersetzende Dynamik aufzuhalten, die zu jenem pathologischen Auftritt gegen Südkorea führte. Vielleicht beantwortet sich die Frage nach dem Posten aber auch einfach so. Es kommt sowieso zu einem Wechsel: entweder ein neuer Trainer oder ein neuer Löw.
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Die Mannschaft auszuwechseln, ist, wie das eingangs erwähnte Beispiel Kroos zeigt, ebenfalls nicht so einfach. Mario Gomez ist der Einzige in diesem Kader, der mit bald 33 Jahren so alt ist, dass ein Ende im Nationalkader nahe rückt. Der Rest ist nicht mehr jung, aber auch nicht alt genug, um sofort alles hinzuschmeißen. Sie sind, wie man so schön sagt, im besten Fußballer-Alter von Ende zwanzig. Höchstens Mesut Özil könnte der Nation den Rücken kehren, da er den Eindruck haben muss, dass sie ihn nicht mehr will. Aber sonst? In Russland scheiterte so offensichtlich das Gesamtkonstrukt, dass sich ein Sündenbock nicht anbietet.
In Russland war die sogenannte Zukunft ja schon dabei. Joshua Kimmich, Niklas Süle, Marc-André ter Stegen, Timo Werner, Leon Goretzka, Julian Brandt, Julian Draxler - diese Spieler werden in einem fließenden Übergang die kommenden Jahre der Nationalelf prägen. Vielleicht kommt Mario Götze zurück (er ist 26 Jahre alt), vielleicht startet ein Jann-Fiete Arp durch oder ein Talent, das man jetzt noch nicht auf dem Schirm hat. Auch Leroy Sané, den Joachim Löw ja aus dem Kader geschmissen hatte, wird Teil dieser Zukunft sein müssen.
Einfache Lösungen liegen nicht auf dem Tisch
Eine weitere populäre These ist es dieser Tage, der Bundesliga eine Mitschuld zu geben. Der deutsche Fußball, heißt es, sei ja schon seit längerem international weniger konkurrenzfähig als er denkt. In der Europa League verliert Hertha BSC gegen Östersund, in der Champions League kommt nur der FC Bayern weit. Diese Beobachtung ist sowohl richtig als auch falsch. Es stimmt natürlich, dass ein Jahr vor dem WM-Titel in Rio zwei deutsche Teams im Champions-League-Finale standen, es stimmt aber auch, dass im letzten EM-Finale mit Portugal und Frankreich zwei Nationalmannschaften standen, deren Ligen noch weniger konkurrenzfähig sind als die Bundesliga. Die mit Abstand erfolgreichste Liga Europas - die spanische La Liga - bringt eine Nationalmannschaft hervor, die 2014 als Weltmeister in der Vorrunde scheiterte und 2016 im Achtelfinale an Italien.
Die Gemengelage ist kompliziert, einfache Lösungen liegen nicht auf dem Tisch. Joachim Löw wird sich in der kommenden Woche erklären, davon hängen weitere Schritte ab. Der deutsche Fußball steht nicht am Abgrund, mit 2000 und 2004 hat er tatsächlich nur die Tatsache gemein, dass alle drei Turniere mit einem Vorrunden-Aus endeten. Der große Unterschied: Damals war in der Vorrunde Schluss, weil keine Qualität da war. Diesmal ist in der Vorrunde Schluss, obwohl Qualität da war. Das ist eine neue Situation - Erfahrungswerte, wie man sie löst, gibt es bisher nicht.