Die Frage ist, was an diesem Kampf ungeheuerlicher ist: dass er ihn überhaupt führen muss? Oder dass er ihn immer noch führt? Halil İbrahim Dinçdağ denkt darüber lieber nicht nach. Er reckt stattdessen seine Faust in die Luft, sein Gesicht, das eben noch fröhlich gelacht hat, zeigt jetzt kaum eine Regung, er blickt entschlossen, dies ist seine wichtigste Botschaft: "Ich kämpfe, solange ich lebe."
Halil İbrahim Dinçdağ, 38, ist ein türkischer Fußball-Schiedsrichter. Und er ist schwul. Deshalb darf er in der Türkei seit 2009, nach 13 Jahren als Referee in oberen Amateurligen, keine Spieler mehr leiten. Er findet , öffentlich geächtet, keine Arbeit mehr. Seit fünf Jahren klagt er deshalb gegen den türkischen Fußballverband TFF auf Schmerzensgeld, Schadenersatz und Wiedereinstellung. An diesem Donnerstag geht die Verhandlung in die 14. Runde.
In den vergangenen Tagen war Dinçdağ zu Besuch in Deutschland, auf Einladung der Initiative "Fußballfans gegen Homophobie" und dem Klub Roter Stern Leipzig. Er saß in Kneipen in Babelsberg, Bremen und Göttingen, am Montag stand er auf der Bühne eines Berliner Hotels neben dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und nahm den "Respektpreis" des Bündnisses gegen Homophobie entgegen.
Die Militärärzte attestieren Dinçdağ eine "psychosexuelle Störung"
Und jedes Mal erzählte er seine Geschichte, die 2008 mit seiner Ausmusterung beim türkischen Militär begann. Homosexualität gilt in der Armee als Krankheit, Schwule werden dort diskriminiert, Menschenrechtsorganisationen prangern das oft an. Dinçdağ wollte der Diskriminierung entgehen und erklärte bei der Musterung seine Homosexualität, die er zuvor geheim gehalten hatte. Ärzte untersuchten ihn wochenlang, legten ihn im Militärkrankenhaus zu psychisch kranken Menschen. Sie attestierten ihm eine "psychosexuelle Störung".
Dinçdağ wollte einfach so weitermachen wie davor, als Schiedsrichter und Radiomoderator in Trabzon am Schwarzen Meer. Er wollte weiterleben, mit seinem Geheimnis. Doch der Fußballverband hatte etwas dagegen: Er entzog Dinçdağ die Lizenz. Ausgemusterte seien nicht in der nötigen körperlichen Verfassung, um Spiele zu leiten, so die Begründung. Dinçdağ erhob Einspruch, woraufhin der TFF ohne sein Wissen die Militärakten einsah, den Grund für die Ausmusterung erfuhr - und die Geschichte eines vermeintlichen Sonderlings in einem Sportmagazin lancierte.
Seitdem kämpft Dinçdağ. Nachdem sein Fall öffentlich wurde, zunächst ohne seinen Namen, gab er dem Widerstand gegen Homophobie sein Gesicht, outete sich in einer Fernsehsendung. Eine Befreiung, sagt er heute, jedoch eine folgenschwere: Er verlor seinen Job und findet auch nach seinem Umzug aus dem konservativen Trabzon nach Istanbul bis heute keine Anstellung. Der Umgang mit Homosexualität folgt in der Türkei einer Doppelmoral. Sie ist im glitzernden Showbusiness akzeptiert, doch verachtet im normalen Leben, in das Dinçdağ zurückkehren wollte. Auf zahlreiche Bewerbungen erhielt er Absagen, hatte finanzielle Sorgen, schlief mal bei Freunden, mal auf der Straße.
Den Preis in Berlin widmete Dinçdağ seiner verstorbenen Mutter. Seine Familie, sagt er, habe immer zu ihm gehalten. Und die Unterstützer wurden zahlreicher. Lambda, eine Vereinigung homo- und bisexueller Männer und Frauen, stellt seinen Anwalt. Der Fall beschäftigt ihn schon lange nicht mehr allein. Dinçdağ erhält viele E-Mails von Menschen, die sich insgeheim mit ihm solidarisieren. Er steht stellvertretend für die Rechte von Schwulen und Lesben in der Türkei, für die Teilhabe am von veralteten Werten geprägten Fußball.
Schiedsrichter ist Dinçdağ seit Jahren nur noch in Hobbyligen. Er habe seinen Job geliebt, sagt er: das Gefühl, ein Fußballspiel im Griff zu haben. Er wünsche sich dieses Gefühl zurück. Doch sein Wunsch prallt ab an denen, die in der Türkei bestimmen, wie Fußball gespielt wird - und wer mitspielen darf. Offiziell ist der TFF natürlich nicht homophob. Dinçdağ sei nicht fit und ein schlechter Schiedsrichter, sagt der Verband: keine Chance auf Wiedereinstellung. Dabei, sagt Dinçdağ, gebe es Belege darüber, wie ihn Spieler und Offizielle stets gut bewertet hatten. Der TFF reagierte auf SZ-Anfragen zu dem Fall nicht.
Das Urteil könnte ein Präzedenzfall werden
Dinçdağ war bereits zum zweiten Mal in Deutschland. Nach seinem ersten Besuch im April flog er voller Hoffnung zurück nach Istanbul, damals zu seiner zwölften Gerichtsverhandlung, es sollte eigentlich die letzte sein. Doch drei Tage vor dem Gerichtstermin, so erzählt er, wurde ein neuer Richter mit dem Fall betraut. Und der Fußballverband hatte ein Schreiben an das Gericht geschickt, mit der Behauptung, Dinçdağ habe von 2000 bis 2008 überhaupt nicht als Schiedsrichter gearbeitet - obwohl dies zuvor nicht angezweifelt worden war.
Nun muss eine entsprechende Erklärung seines ehemaligen Regionalverbands in Trabzon abgewartet werden. Gerichtsverfahren sind in der Türkei traditionell langwierig. Doch es hat den Anschein, als wolle der Verband Dinçdağs Willen brechen. Ein Urteil zu seinen Gunsten könnte ein Präzedenzfall werden, es würde Bekenntnisse fordern zu einem Thema, das der TFF am liebsten ignorieren würde.
Auch am vergangenen Dienstag ist Dinçdağ wieder voller Hoffnung nach Istanbul zurückgeflogen. Er hoffe nun, ob der Öffentlichkeit seiner Geschichte, einmal mehr auf einen fairen Prozess. Doch noch ist der Druck auf den Verband gering. Die Uefa, Dachverband des TFF, erklärt gerne, gegen Homophobie im Fußball rigide vorzugehen. Halil İbrahim Dinçdağ formt mit seiner Hand, die eben noch eine Faust war, einen Schnabel: Das sei leider nur Gerede, sagt er. Doch Dinçdağ lächelt dabei, überhaupt lächelt er viel, wirkt selbstbewusst. Er wird nicht aufhören zu kämpfen.