Es ist bekannt, dass die Zeit in der Pandemie anders verläuft und es ist auch bekannt, dass Fußball ein sogenanntes schnelllebiges Geschäft ist - aber vor exakt einem Jahr war das Achtelfinal-Hinspiel der Champions League noch eine andere Geschichte. Die Münchner spielte in London gegen Chelsea (vor Zuschauern!), das Coronavirus war schon in den Nachrichten, die weltweite Krise aber höchstens für Experten absehbar und die Debatte beim FC Bayern war, ob es der schnell beförderte Co-Trainer auch auf der "großen Bühne" Europa "kann". Er konnte. Karl-Heinz Rummenigge überreichte Flick nach dem 3:0 beim anschließenden Bankett einen Stift "mit dem man Verträge unterschreibt".
Nun ist wieder Achtelfinale und die Debatten sind gänzlich andere. Nicht, ob Flick es immer noch "kann" - so schnelllebig ist das Fußballgeschäft auch wieder nicht - sondern, ob die Probleme nicht auch für den FC Bayern zu massiv werden. Benjamin Pavard und Thomas Müller: Corona-positiv. Corentin Tolisso und Serge Gnabry: verletzt. Die Auftritte gegen Frankfurt und Bielefeld: ungewohnt schwach. Der DFB-Pokal: verloren. Die Außendarstellung: ausbaufähig.
Das Ergebnis ist trotzdem fast das gleiche, beim 4:1 bei Lazio Rom war der FC Bayern wieder voll im "Matchday-Modus", wie es Leon Goretzka danach bei Sky nannte. Flicks Fazit lautete: "Wir wollten von Anfang an hellwach sein und auf dem Platz stehen. Jeder einzelne war bereit und hat den Willen gehabt, etwas Besonderes zu leisten." Der Sieg sei deshalb auch in dieser Höhe "mehr als verdient".
Goretzka hält nach seiner Corona-Quarantäne 63 Minuten lang durch
Das Spiel gegen Lazio war tatsächlich wieder ein echtes Flick-Spiel: hohes Pressing, frühe Ballgewinne, gnadenloser Abschluss bei Fehlern, exemplarisch zu sehen bei Lewandowskis 1:0. Ein horrender Rückpass, sicher, aber auch nicht unerzwungen. Das System mit der "hochstehenden Mannschaft" zeichnet sich dadurch aus, dass es mächtig wirkt, wenn die einzelnen Teile ineinander greifen - und anfällig, wenn das nicht so ist, so zu sehen in den ersten beiden Halbzeiten gegen Bielefeld und Frankfurt.
Flick musste zwar mit einer bemitleidenswerten Ersatzbank nach Rom reisen (mit Hernandez saß da im weitesten Sinne ein einziger Stammspieler), aber die erste Elf war zumindest nah an Flicks Idealvorstellung. Goretzka, der nach seiner Corona-Quarantäne wieder 63 Minuten lang durchhielt, hatte sich nach eigener Aussage "schon ziemlich verausgabt". Es sei aber "nicht die Corona-Erkrankung, die noch in den Knochen steckt", erklärte Goretzka, "sondern eher die zweiwöchige Trainingspause". Dass er wieder mitspielen kann, bedeutet für das zentrale Münchner Mittelfeld eine deutliche Stärkung. Noch viel mehr sah man den Unterschied zum Ligaalltag aber an drei Spielern, die unter normalen Bedingungen um ihren Platz in der Startelf bangen würden.
Da war Jamal Musiala, dem die Schlagzeilen des Abends gehörten, weil er sich mit seinem Tor zum jüngsten Champions-League-Torschützen in der Geschichte des FC Bayern beförderte, wobei man auch lernte, dass bisher Sammy Kuffour diesen Titel inne hatte (es war übrigens sein einziges Champions-League-Tor). Musiala verkündete am folgenden Morgen, dass er in Zukunft gerne für die deutsche Nationalmannschaft auflaufen würde. England wäre auch möglich gewesen. "Am Ende habe ich auf mein Gefühl gehört, dass es die richtige Entscheidung ist, für Deutschland zu spielen", sagte der in Stuttgart geborene und in Southampton aufgewachsene Musiala.
Aber noch mehr als der 17-Jährige nahmen die beiden aktuellen Nationalspieler Niklas Süle und Leroy Sané Einfluss auf das Spiel in Rom. Süle war in den vergangenen Wochen vielleicht der meistkritisierte Bayern-Spieler - auch die Vorstandsetage in Person von Rummenigge sendete via ZDF-Sportstudio die Botschaft, dass eine Vertragsverlängerung "nur unter gewissen Konditionen" möglich sei.
Süle spielte in Rom wieder auf der für ihn maximal undankbaren Rechtsverteidiger-Position. Er ist mit 1,95-Metern wahrlich kein Außenbahnflitzer, aber wenn Pavard ausfällt, hat Flick nur noch Bouna Sarr zur Verfügung und ob der Franzose (Vertrag bis 2024) nochmal in einem wichtigen Spiel auflaufen darf, wird man sehen. Er brauche Süle "im Dreieraufbau", sagte Flick vor dem Spiel fachmännisch, was so viel heißt wie: Er braucht jemand, der die Bälle sauber hinten raus spielt.
Aber damit begnügte sich Süle nicht. Schon nach sieben Minuten dribbelte er leichtfüßig durch die römische Abwehr, sein Querpass auf Lewandowski kam um Zentimeter nicht an. Süle ging öfter bis zur Grundlinie durch als Pavard, nach hinten stand er sicher - er kann ja erstaunlich schnell sein, wenn er mal ins Laufen kommt. Zusammen mit Alphonso Davies bildete er ein so ungleiches wie vitales Außenbahnduo.
Sané trifft vorne - und hilft auch nach hinten kräftig mit
Der Nationalverteidiger äußerte sich nach dem Spiel nicht, er gibt nicht so gerne Interviews, dafür sprach Leroy Sané - der andere oft kritisierte Spieler. "Ich denke, das war ganz ordentlich", sagt er zu seiner Leistung und man darf das nicht als Eigenlob missverstehen, er wurde quasi dazu genötigt, sich zu sich selbst zu äußern. Wer Sané in den vergangenen Wochen beobachtet, dem fällt seit dem Leverkusen-Spiel (er wurde ein- und wieder ausgewechselt) die ein oder andere Veränderung auf. Nicht alles klappt beim 25-Jährigen, aber das Engagement nach vorne und nach hinten hat sich merklich gesteigert.
Gegen Rom schoss Sané nicht nur ein Tor (das 3:0, ein Abstauber nach einem Coman-Schuss), nein, er provozierte das Eigentor zum 4:0 mit einem fulminanten Sprint und einem Haken aus vollem Lauf, den so nicht viele in Europas Fußball hinkriegen. "Ich bin Offensivspieler", stellte Sané noch einmal klar: "Na klar will ich offensiv Akzente setzen und der Mannschaft helfen, Tore zu schießen. Aber genauso fängt in der Offensive auch die Defensive an, wenn wir da anlaufen." Vor allem den letzten Satz darf man als Lerneffekt verstehen.
Und so hat sich der FC Bayern ein wenig Luft verschafft. Am Wochenende geht es gegen den 1. FC Köln, dann hat Bayern eine Woche lang Pause, um sich auf das Spiel gegen Dortmund vorzubereiten. Im DFB-Pokal müssen sie ja nicht antreten.