1:1 gegen Leipzig:Spagat zwischen zwei Welten

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Wooyeong Jeong, 22, bejubelt sein Tor für Freiburg, der 19-jährige Kiliann Sildillia stimmt mit ein - genauso wie Nicolas Höfler und Roland Sallai (v. l. n. r.). (Foto: Jan Huebner/imago)

Bei der Premiere im neuen Stadion beweist der bienenfleißige SC Freiburg seine Klasse. Bei Leipzig punktet Trainer Jesse Marsch mit Sprüchen nach dem Spiel.

Von Ron Ulrich, Freiburg

Carmelo Policicchio, genannt "Chico", kennt in Freiburg jeder, vom Kuttenfan bis zum Cheftrainer. Das Unikum führte jahrzehntelang im alten Dreisamstadion einen Ausschank und schreibt fürs Stadionmagazin. Er begrüßte in seiner zweiten Pinte "Swamp" eine bunte Mischung aller Anhänger und Bands wie "The National", lange bevor sie ihren internationalen Durchbruch schafften. "Chico" zog nun mit um, "von der Altbauwohnung mit Macken in eine neue perfekte Welt": Am Samstag weihte Freiburg beim 1:1 (0:1) gegen RB Leipzig diese Welt in der Bundesliga ein. Und viel spricht dafür, dass "Chico" in Freiburg wieder einmal große Talente sieht, bevor sie dann in größeren europäischen Stätten auftreten. Sie tragen Namen wie Sildillia, Schlotterbeck oder Jeong - und man sollte sich diese Namen auch außerhalb Freiburgs langsam merken.

Gegen Leipzig waren die Freiburger nur durch einen Elfmeter zu bezwingen, sie hatten den Gegner in Hälfte zwei am Rande einer Niederlage und trafen insgesamt zwei Mal den Pfosten. Der SC bleibt damit in dieser Saison ungeschlagen und Tabellenvierter. Während die Sachsen vor allem durch ihre individuelle Klasse gefährlich wurden, profitierte Freiburg von seinem Bienenfleiß in allen Mannschaftsteilen. "Wir hatten viel Ärger in der zweiten Halbzeit", sagte Gäste-Trainer Jesse Marsch. Freiburgs Christian Streich sah in diesem Abschnitt eine "herausragende Leistung".

Die 20 000 Zuschauer (abzüglich der wenigen Gäste-Fans) im ausverkauften Stadion standen während der Nachspielzeit auf und beklatschten die Leistung. Die Stimmung erhielt allerdings einen Dämpfer wegen eines tragischen Falls: Auf der Südtribüne musste Mitte der zweiten Halbzeit ein Fan reanimiert und ins Krankenhaus abtransportiert werden. Pietätvoll schwiegen die Fans, die Stadionregie verzichtete im Nachgang auf Musik und laute Durchsagen.

Gelbe Karte für Freiburgs Chefeinpeitscher

Bis dahin war aber auch der Spagat des SC zwischen neuer und alter Welt, zwischen Alternative und Mainstream, spürbar. Da lief ein Song über den englischen Skandalkicker Robin Friday durchs Rund, aber der Sprecher animierte auch per "Kiss-Cam" Stadionbesucher zum öffentlichen Tête-à-tête. Da sangen die Fans auf der steilen Stehplatztribüne besonders laut von ihrem "Eingetragenen Verein", aber gleichzeitig taten sich die restlichen Tribünen schwer mit dem Einstieg.

Ein Einpeitscher vor der Haupttribüne musste allerdings in der ersten Halbzeit mit Mühe zurückgehalten werden. Er ruderte wild mit den Armen, gestikulierte und schrie in Richtung Rasen. Eingreifen mussten da aber keine Stadionordner, sondern erst SC-Torwarttrainer Andreas Kronenberg, dann der Schiedsrichter. Letzterer verwarnte den Aufgebrachten mit der gelben Karte: Es war SC-Trainer Christian Streich. Für seinen Geschmack hatten die Leipziger zu oft den Liegekomfort auf dem für das Spiel verlegten Rasen ausgetestet.

Schiedsrichter Daniel Siebert (Mitte) und Freiburgs Trainer Christian Streich (re.) hatten nach dem Spiel noch Redebedarf. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Nach einem vermeintlichen Foul an Yussuf Poulsen rief er bereits in Richtung des immerhin 1,92 m großen Leipziger Co-Trainers Achim Beierlorzer: "Der ist so groß und fällt nur um. Der ist größer als du." Nachdem in der 31. Minute dann Leipzigs Christopher Nkunku nach einem Kontakt schnell zu Boden ging und der Schiedsrichter auf den Punkt zeigte, folgte Streichs Ausbruch, für den er sich später entschuldigte.

Emil Forsberg verwandelte den Strafstoß zum 1:0 für Leipzig, das besonders durch Nkunku immer wieder Gefahr ausstrahlte. Der Offensivmann ist mit seiner engen Ballführung und seinen flinken Bewegungen kaum zu halten, unter der Woche noch nicht einmal vom eigenen Team. Da flüchtete er eigenmächtig vom Trainingsplatz. Marsch nahm seinen Schützling daraufhin ins Gebet, doch auch am Samstag musste er mit ansehen, wie sich seine hochveranlagten Spieler seinem Einfluss entzogen. Nach der Halbzeit wurden sie von den Freiburgern mehr und mehr zurückgedrängt.

In der zweiten Halbzeit ist Freiburg dem Sieg sehr nah

In der 64. Minute köpfte Wooyeong Jeong freistehend eine Flanke von Vincenzo Grifo zum Ausgleich ins Eck. Jeong hatte bis zur Erschöpfung die Devise seines Trainers in die Tat umgesetzt, auch als Offensiver "schlau und kreativ gegen den Ball" zu arbeiten. Er lief also die Defensivreihe an, gewann Bälle am eigenen Sechzehner und hätte schon in der ersten Halbzeit treffen können.

Jeong ist erst 22 Jahre alt, der wieder sehr zuverlässige Nico Schlotterbeck erst 21 und Bundesligadebütant Kiliann Sildillia sogar erst 19. "Ich bin mit ihm sehr, sehr zufrieden. Er war so ruhig, als wäre es ein Freundschaftsspiel", lobte Streich danach. Die Überzeugung der Jungspunde steht stellvertretend für Freiburgs Mannschaft, die am Ende dem ersten Sieg im neuen Stadion sehr nahe kam. Sie hätte gemäß der kleinlichen Ahndung bei Leipzigs Elfmeter ihrerseits noch einen Strafstoß bekommen können. Nicolas Höfler traf zudem in der 89. Minute den Pfosten.

"Ich bin enttäuscht, ich dachte, es geht bei deinen Pressekonferenzen mehr um Politik", sagt Marsch zu Streich

Kurz darauf beorderte Leipzigs Coach Marsch seine Spieler demonstrativ nach hinten, um den Punktgewinn zu sichern. "Es war eine Durchschnittsleistung, unser Anspruch ist höher", sagte der Amerikaner nach der Partie. Er hätte nicht nur deshalb Grund zu schlechter Stimmung gehabt, denn am Dienstag wartet ein gewisses Paris Saint-Germain auf Leipzig. Marsch berichtete mit einem Lächeln von Niederlagen gegen Lionel Messi oder Neymar als Co-Trainer der USA: "Bislang habe ich gegen sie keine gute Geschichte."

Ähnlich flapsig gab er seinem Trainerkollegen Streich bei der Medienrunde eine mit: "Ich bin enttäuscht, ich dachte, es geht bei deinen Pressekonferenzen mehr um Politik." Der erwiderte: "Du hast dich sehr gut vorbereitet; bei dir lachen die Leute im Raum, bei mir schauen sie nur ernst." Dabei verhielt es sich mit der Gemütslage nach dem 1:1 eigentlich genau umgekehrt: Bei den Leipzigern sind die Blicke als Tabellenachter derzeit ernst, die Freiburger hingegen haben gut lachen.

Carmelo "Chico" Policicchio legte an diesem Tag Velvet Underground auf und war mit dem Spiel zufrieden. Zum Stadion sagt er: "Die perfekte neue Heimat muss erst einmal ein bisschen Patina ansetzen." Doch diese Freiburger Mannschaft könnte in dieser Saison genug Staub aufwirbeln.

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