Hertha schlägt Stuttgart 2:1:Motivation aus der Sohle

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Stollenschuh voran: Nach einer Freistoßflanke von Lukebakio drückte Herthas Florian Niederlechner den Ball mit der Sohle gen Tor. (Foto: Andreas Gora/Imago)

Hertha BSC befolgt zwei verblüffend simple Handlungsanweisungen von Trainer Dardai. Nach dem Sieg über Stuttgart ist der Tabellenletzte nur noch drei Punkte vom Relegationsplatz entfernt.

Von Javier Cáceres, Berlin

Die Hoffnung gehört zu den Dingen, die man nicht käuflich erwerben kann. Sie ist abstrakt. Das trifft sich im Falle von Hertha BSC insofern gut, als diese, technisch betrachtet, ein Sanierungsfall ist. Gäbe es einen Laden, der Hoffnung feilbietet, so müsste die Hertha an ihm vorbeilaufen, die Hände in den leeren Hosentaschen vergraben. Doch siehe: Seit Samstag hat Hertha BSC wieder etwas mehr Hoffnung. Nicht viel. Aber in jedem Falle mehr als vor dem Spiel gegen den VfB Stuttgart. Der Berliner Klub kam durch Tore von Marc-Oliver Kempf und Florian Niederlechner zu einem 2:1-Sieg, der ihn zwar nicht von der Bürde befreite, das Tabellenende der Fußballbundesliga zu markieren. Aber immerhin: Der Abstand zum Nichtabstiegsplatz 15 beträgt nur noch fünf, nicht mehr sechs Punkte. Und der Relegationsplatz 16, den Gegner Stuttgart belegt, ist bei drei verbleibenden Spielen nurmehr drei Punkte entfernt.

Die Motivation schöpfte Hertha BSC aus der vermeintlichen Ausweglosigkeit der eigenen Lage. Zumindest legen das die Äußerungen des Torschützen Niederlechner nahe. "Wir haben eh nix mehr zu verlieren...", habe Herthas ungarischer Trainer Pal Dardai der Mannschaft vor der Partie gesagt, und daraus zwei zentrale Handlungsanweisungen entwickelt, die sich simpel anhören: "Kackt Euch nicht in die Hose. Spielt Fußball", seien Dardais Worte gewesen. Sie wirkten offenbar. Die Mannschaft scherte sich nicht um den vermeintlichen Druck und befolgte die Instruktionen in Rahmen ihrer Möglichkeiten. Herthas Fußball wies zwar nur rudimentäre Ähnlichkeiten mit dem Modell der ungarischen Wundermannschaft der 1950er Jahre auf, an deren Held Ferenc Puskas Trainer Dardai unter der Woche erinnert hatte. Doch die Zahl der Hertha-Fans, die zurzeit geneigt sind, wegen der Qualität der Darbietungen im Olympiastadion die Nase zu rümpfen, geht gegen null. Dardai war zufrieden: "So kann man in der Liga bleiben", sagte er.

Stuttgarter Ballbesitz vertreibt die Melancholie nicht

Der Coach hatte die Mannschaft im Vergleich zum Spiel der Vorwoche beim FC Bayern auf vier Positionen verändert. Die bedeutendsten Umstellungen: Er holte Stevan Jovetic zurück ins Team ("der beste Fußballer im Kader") und stellte ihn auf die Zehner-Position. Marton Dardai spielte neben Lucas Tousart auf der Doppelsechs.

Die Stuttgarter legten es zu Beginn der Partie augenscheinlich darauf an, die Hertha durch Risikovermeidung und Geduld zu locken. Durch möglichst langen Ballbesitz sollte womöglich die Melancholie bekämpft werden, die das Halbfinale im DFB-Pokal gegen Eintracht Frankfurt (2:3) hinterlassen hatte.

Anfangs hatte es sogar den Anschein, dass der Plan aufgehen könnte. Der VfB kam durch Serhou Guirassy zur ersten Gelegenheit der Partie: Herthas Torwart parierte dessen Schuss (7.). Danach aber bissen sich die Berliner in das Spiel hinein. Sie ließen sich auch nicht anmerken, dass es selbst nach den ersten Abschlüssen durch Tousart und Dodi Lukebakio nötig war, eine Menge Phantasie aufzuwenden, um in diesen Vorstößen die Vorboten des Führungstreffers zu sehen. Doch Marc-Oliver Kempf erzielte ihn, per Kopf und auf imposante Weise. Nach einer schönen Flanke von Marco Richter von der rechten Seite schraubte sich Kempf sieben Meter vor dem Tor der Stuttgarter machtvoll in die Höhe und wuchtete den Ball mit Überzeugung ins Netz (29.).

Allerdings: Acht Minuten später war Kempf im anderen Strafraum nicht zu sehen, als Borna Sosa von links per Flankenwechsel den völlig ungedeckten Josha Vagnoman bediente, der wiederum auf Guirassy im Fünfmeterraum ablegte. Der Stürmer drückte den Ball ins leere Tor (38.). "Dann musst du mit dem 1:1 in die Pause gehen", sagte VfB-Trainer Sebastian Hoeneß nach der Partie in sachlichem Ton, obschon er zu großem Ärger Anlass hatte. Denn diese Forderung hatte sich nicht erfüllt: In der zweiten Minute der Nachspielzeit kam es zur neuerlichen Führung der Hertha. Nach einer Freistoßflanke von Lukebakio drückte Florian Niederlechner den Ball mit der Sohle gen Tor - die Kugel flog durch die Beine des verdutzten VfB-Torwarts Fabian Bredlow ins Netz: 2:1.

"Dies ist ein Ergebnis, das wehtut, uns aber nicht umwerfen wird", sagte Hoeneß

In der Pause wechselte Stuttgarts Trainer Sebastian Hoeneß den in der ersten Halbzeit wenig wirksamen Stürmer Tiago Tomás aus und Silas ein, der als vernunftbegabtes Wesen Handschuhe trug. Von wegen Mai - im Olympiastadion herrschten Temperaturen wie im Spätherbst. Kurz darauf kam auch Chris Führich für Genki Haraguchi. Falls das dem Ziel dienen sollte, das größte Manko des Stuttgarter Spiels zu beheben, den Mangel an Rhythmuswechseln, so schlug das fehl. Hertha BSC verlegte sich darauf, die Führung tief und konzentriert zu verteidigen, und weil das gelang, war es recht unerheblich, dass der Tabellenletzte im Spiel nach vorn Probleme hatte, drei Pässe aneinanderzureihen.

Er könne sich an zehn Umschaltsituationen erinnern, in der sein Team die möglichen Konter nicht ausgespielt habe, ärgerte sich Dardai später. Hoeneß wiederum sagte, dass seine Mannschaft "viel investiert und nichts mehr zugelassen" habe, was in solchen Spielen auch wichtig sei, die Durchschlagskraft aber habe gefehlt. Tatsächlich kam der VfB erst in der Schlussphase wieder zu gefährlichen Abschlüssen durch Distanzschüsse von Vagnoman und Wataru Endo, die ihr Ziel verfehlten. Es blieb beim 2:1-Sieg für die Hertha.

"Dies ist ein Ergebnis, das wehtut, uns aber nicht umwerfen wird", erklärte Hoeneß. Für die Hertha wiederum bedeutete der Sieg Punkte - sowie Zeit, in der Hoffnung wachsen kann. Dardai wollte dies feiern. Nach Spielschluss gönnte er sich erklärtermaßen ein Bier, in der heimischen Villa wollte er weiterfeiern. Am Abend wolle er sich "erstmal Wein und Zigarre", gönnen, sagte der Ungar.

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