Brasiliens Aus bei der Fußball-WM:Maximales Desaster

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An Wahnsinn grenzende Verzweiflung bei den brasilianischen Fans im Estádio Mineirão in Belo Horizonte (Foto: Getty Images)

Brasilien kassiert die höchste Niederlage seiner Geschichte - in einer der wichtigsten Partien, die es gibt. Seleção-Trainer Scolari bemüht das Schicksal, doch diesmal nehmen ihm seine Landsleute das nicht ab. Was geschieht, wenn das Land aufwacht?

Von Thomas Hummel, Belo Horizonte

Es gab einige Möglichkeiten, auf den Schock zu reagieren. Da war die Trauer, da waren die Tränen, im Estádio Mineirão weinten viele Menschen einfach drauflos. Manche gaben sich dem Alkohol hin. Es soll zu Gewalt gekommen sein: eine Rangelei im Stadion, angeblich brennende Busse in São Paulo.

In den Fernsehstudios und Redaktionen erhob sich das Schimpfen und Zetern. Alles wurde verdammt und in Grund und Boden kommentiert. Die Zeitung Folha de S. Paulo titelte stellvertretend: "Historische Blamage - Brasilien wird erneut gedemütigt bei dem Versuch, eine Heim-WM zu gewinnen." Wie damals, 1950, als Uruguay das letzte Spiel 2:1 gewann. Diese Niederlage im Estádio do Maracanã in Rio de Janeiro ist als Maracanaço in Erinnerung. 64 Jahre später war die Geburtsstunde von Mineiraço.

An diesem Dienstag wären die Brasilianer mit einem 1:2 im Nachhinein ganz froh gewesen. Doch die unbarmherzigen Deutschen zimmerten ihnen sieben Tore ins Herz. 1:7! Die höchste Niederlage in der Geschichte der Seleção. In einer der wichtigsten Partien, die es gibt. Dem Halbfinale der Weltmeisterschaft im eigenen Land. Mehr Desaster geht nicht. Hätte das Land dies vorausgesehen, es hätte dem Weltverband Fifa die WM sofort zurückgegeben.

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Luiz Felipe Scolari, der Trainer, saß auf dem Podium vor der Weltöffentlichkeit. Verstecken ist nicht seine Art, er ist viele Wochen lang der Papa der Nation gewesen. Die Scheinwerfer richteten sich auf ihn, er sprach schnell, in diesem brasilianischen Singsang mit den vielen weichen Lauten. Er wirkte nicht geknickt. "Wir bitten um Vergebung bei der Bevölkerung, bitte entschuldigt diesen Fehler. Ich bin verantwortlich für das, was die Mannschaft auf dem Feld geboten hat und trage auch die Verantwortung für das Ergebnis."

Er sprach die Worte eines Menschen, der sich der Nachsicht des Volkes aussetzt. Doch dabei wirkte er abgeklärt. Als könne ihm die ganze Aufregung nichts anhaben. "Das Leben geht weiter. Für die Deutschen, für uns. Es wird wieder neue Aufgaben geben."

Scolari, den das Land bis Dienstagnachmittag ehrfürchtig Felipão nannte, gab die Richtung vor. Die deutsche Mannschaft sei eben überragend gewesen. Kann man nichts machen. Die Stärke des Gegners müssten die Brasilianer anerkennen. So oder so ähnlich äußerten sich auch die Spieler. "Diese Mannschaft spielt schon seit langem zusammen, so weit sind wir noch nicht", erklärte Torwart Júlio César. Doch lag es wirklich am unwiderstehlichen Gegner, dass das Land einem einmaligen Debakel beiwohnen musste?

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Die sechs Minuten, in denen seine Mannschaft vier Tore von Klose, Kroos, noch mal Kroos und Khedira hinnahm, seien ein unerklärliches Ereignis gewesen, beklagte Scolari. Etwas, das nicht normal sei. Aber das eben passiere. Scolari hob die Schultern. Doch diesmal nahmen ihm seine Landsleute das Schicksalhafte in seinen Erklärungen nicht ab.

Der 65-Jährige offenbarte in den vergangenen Tagen zu viele Fehler. Er konnte oder wollte die religiöse Überhöhung der WM durch seine Spieler nicht stoppen. Die Fußballer betonten ihren Glauben daran, dass Gott sie durch die WM leiten würde. Kapitän David Luiz sprintete zu Beginn des Aufwärmens mit zum Himmel erhobenen Armen auf den Platz und leitete den Abend öffentlich mit einem Gebet ein. Es war eine Facette dieser emotional viel zu aufgeladenen Mission. Die andere Facette hieß Neymar.

Seitdem der talentierteste Fußballer im Viertelfinale von einem kolumbianischen Gegenspieler schwer verletzt wurde, betonten die Brasilianer in jeder Äußerung die Bedeutung ihres Mitspielers. Die Delegation trug im Estádio Mineirão Kappen mit der Aufschrift "Força Neymar". Zur Hymne hielt David Luiz ein Trikot mit der Nummer 10 hoch. Die Zuschauer trugen Masken des 22-Jährigen. Wir spielen für Neymar!, hieß die Losung. Dabei verpassten sie allerdings, sich einen vernünftigen Plan zurechtzulegen, wie sie ohne ihren Fußballprinzen gegen Deutschland zurande kommen sollten.

Scolari setzte alles auf die Karten Leidenschaft und Emotion. Vielleicht ahnte er, dass es fußballerisch nicht reichen würde. Dann aber schickte er seine Mannschaft in ein Himmelfahrtskommando. Denn er brachte für Neymar den 21-jährigen Stürmer Bernard. Er beorderte gleich vier Spieler an die vorderste Front. Hulk, Oscar, Fred und Bernard spielten Mann gegen Mann gegen die deutsche Viererkette. Da die Außenverteidiger Maicon und Marcelo sehr weit aufrückten, boten die Brasilianer anfangs das offensivste Bild dieser WM. Dumm nur, dass all diese Spieler vergaßen, die notwendige Arbeit in der Defensive zu verrichten.

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Als dann David Luiz vor dem 0:1 Thomas Müller alleine ließ, löste sich alles auf. Es fehlte der gesperrte Thiago Silva, der den emotionalen Nebenmann hätte einfangen können. So rannte David Luiz unkontrolliert und außer Rand und Band über das Feld in dem Versuch, alles alleine regeln zu wollen. Wie ein wild gewordener Hengst rumpelte er nach vorne, hinten wunderte sich Dante, dass er das Zentrum ganz alleine abdecken sollte. Die Deutschen nutzten den übermotivierten, kindischen Überschwang gnadenlos aus.

"Brasiliens Spielweise ist uns entgegengekommen. Sie waren sehr offen für Konter nach Ballverlusten", sagte Toni Kroos, der deutsche Mittelfeldspieler hatte fast Mitleid: "Sie waren irgendwie nicht voll da, keiner wollte den Ball haben in der ersten Halbzeit. Da hat die Angst mitgespielt." Nach dem zwischenzeitlichen 0:7 feierten die brasilianischen Zuschauer den Gegner aus Deutschland mit rhythmischem Klatschen und "Olé"-Rufen bei jedem Ballkontakt. Die eigenen Spieler wurden teilweise ausgepfiffen, teilweise übel beschimpft wie der Stürmer Fred.

Nun ist der Traum, der Wunsch, das Verlangen des Landes nach dem Sieg der Fußballer bei der eigenen WM barsch beendet. "Die Wunde ist offen und es wird dauern, bis sie verheilt ist", schrieb die Zeitung O Dia. Dilma Rousseff, die Präsidentin, reagierte sofort. Sie will bald eine Wahl gewinnen und weiß um die Wirkung, die ein solcher Niederschlag auf ihre Popularität haben kann. "Wie alle Brasilianer bin ich sehr, sehr traurig über die Niederlage. Es tut mir immens leid für uns alle, für die Fans und unsere Spieler", twitterte sie. Um sogleich die Trotzreaktion zu fordern: "Aber wir lassen uns nicht brechen. Brasilien, schüttel den Staub ab und steh wieder auf!"

Wie und wann der Staub abgeschüttelt wird, das wird spannend werden. Die Frage ist, wie das Land aufwacht. Wird es akzeptieren, oder kommen nun all die Unzufriedenen zum Vorschein, die diese WM ohnehin nie wollten? Wird es verzeihen, oder die Fußballer verdammen? Zumindest Letzteres wird bald erkennbar sein. Am Samstag ist das Spiel um Platz drei.

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