Boxerin Mary Kom Hmangte:Auf der Flucht vor üblen Gerüchen

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In Indien ist Cricket Nationalsport, eine boxende Frau meist uninteressant. Mary Kom Hmangte will das ändern: Die zweifache Mutter holt in London im Fliegengewicht überraschend Bronze - und hofft auf eine bessere Zukunft für sich selbst.

Jürgen Schmieder, London

Beim Olympischen Boxen fehlen am Ring die Plätze, auf denen die Menschen sitzen, die sich selbst für berühmt und reich und wichtig halten. Stattdessen ist dort nur viel Boden. Deshalb wirkt Mary Kom Hmangte noch kleiner als sonst, als sie zu ihrem ersten Kampf marschiert. Sie ist offiziell 1,56 Meter groß, doch mit Kopfschutz und Handschuhen sieht sie winzig aus. Außerdem riecht es in der Halle nach Schweiß.

Da es das Halbfliegengewicht bei Olympia nicht gibt, nahm sie für die höhere Gewichtsklasse fünf Kilogramm zu: Boxerin Mary Kom Hmangte (r.). (Foto: dpa)

Hmangte mag das. Sie weiß, wie Schweiß riecht. Das kennt sie aus der Trainingshalle. Sie weiß auch, wie Dinge riechen, die schlimmer stinken als Schweiß. Das kennt sie von ihrem Leben außerhalb der Trainingshalle. Wo sie herkommt, einer Provinz in Indien, da ist Schweiß manchmal der angenehmste Geruch.

Hmangte ist Boxerin, zum ersten Mal gibt es bei Olympia Frauen-Wettbewerbe. Sie tritt an im Fliegengewicht, der Gewichtsklasse bis 51 Kilogramm, ihre erste Gegnerin ist am Sonntag die Polin Karolina Michalczuk. Es ist eine wilde Prügelei, vier Runden lang, Mary Kom Hmangte gewinnt am Ende deutlich mit 19:14. "Ich habe zwölf Jahre gewartet, an den Olympischen Spielen teilnehmen zu dürfen, jetzt darf ich endlich mitspielen", sagt sie, als sie aus dem Ring kommt. Dann beginnt sie zu weinen.

Man kann Fußball spielen oder Tennis. Kein Mensch spielt Boxen. Beim Boxen muss man kämpfen. Mary Kom Hmangte hat gekämpft bei diesen Olympischen Spielen, sie hat sogar eine Medaille gewonnen. Am Mittwoch unterlag sie der Britin Nicola Adams im Halbfinale, weshalb sie Bronze bekommt. "Das ist ein Traum", sagte sie trotz der Niederlage.

Hmangte ist 29 Jahre alt, sie ist verheiratet und hat zwei Kinder: Zwillinge, vier Jahre alt. Für die Spiele hat sie fünf Kilo zugenommen, weil es ihre eigentliche Klasse, das Halbfliegengewicht, bei Olympia nicht gibt und sie wuchtig sein muss, um eine Chance zu haben. Sie muss an diesen Spielen teilnehmen, sie muss erfolgreich sein, dieses Turnier ist ihre erste und einzige Chance, den Orten zu entfliehen, wo es schlimmer riecht als Schweiß.

Sie stammt aus Churachandpur, einem Kaff im Bundesstaat Manipur. Das liegt im Nordosten von Indien, eingekeilt zwischen Bangladesch, Burma und Bhutan. Die Menschen in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi haben keine Ahnung, wo Manipur liegt. Hmangte ist fünf Mal hintereinander Weltmeisterin im Leicht-Fliegengewicht geworden. Sie ist eine der besten Boxerinnen der Welt, doch in ihrem eigenen Land kennt sie kaum jemand.

Sport in Indien, das ist Cricket. Weil Cricket nicht olympisch ist, gibt es nur einen Sportler, der jemals Gold in einem Einzelwettbewerb gewinnen konnte: der Schütze Abhinav Bindra. Sport in Indien, das ist was für Männer. Eine Frau, die kämpft? Interessiert den Inder nicht.

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Auf Olympia bereitete sich Hmangte zunächst in Patiala vor. Das ist in Nordindien, es gibt eine Einrichtung für Sportler mit "guten Bedingungen", wie sie sagt. Das bedeutet: Hmangte wäscht ihre Trainingsklamotten mit der Hand, sie kocht ihr Essen selbst, ein Mal im Monat gibt es Fleisch. "Ich kann mich nicht ernähren, wie Sportler sich ernähren sollten", sagt Hmangte, "kein Frühstück, keine Eier. Nur Reis und Gemüse." Einige Sportler arbeiten im Hotel als Tellerwäscher oder Kellner, um sich die Unterkunft leisten zu können. Von März an war Hmangte in Liverpool, der indische Verband hat das bezahlt. Manchmal absolvierte sie 24 Runden Sparring am Tag. Wer einmal in einem Boxgym war, der hat eine Ahnung davon, wie lange eine Runde sein kann. "Ein Boxer muss stark und schlau sein", sagt Hmangte, "vor allem muss ein Boxer Willen haben."

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Mary Kom Hmangte hat als Boxerin keine herausragende Technik, sie ist auch keine, die sich geschickt verteidigt. Sie ist schnell, sie schlägt präzise, ihre Beinarbeit ist famos. Am Ende der Serien schlägt sie meist einen linken Haken, die der Kontrahentin die Balance raubt. Dann folgt die nächste Serie. So auch beim Olympischen Turnier. Immer Vollgas. Vier Runden lang.

Sie braucht diese Olympischen Spiele, es ist Werbung für ihren Sport, es ist aber auch Werbung für ihr Trainingszentrum, das sie vor zwei Jahren in Churachandpur eröffnet hat. Dort dürfen Kinder kostenlos trainieren und auf eine bessere Zukunft hoffen. Aber die Akademie braucht finanzielle Unterstützung.

Die Inder, die in London leben - und davon gibt es viele -, haben gehört, dass es da eine Boxerin gibt, die Olympiasiegerin werden kann. Also kamen sie in die Halle und feuerten an. Die indischen Journalisten klatschten nach jedem Kampf, wenn sie danach kam, um Fragen zu beantworten; plötzlich war Frauenboxen doch eine indische Sportart.

Ihre Kämpfe wurden am Mittag oder Nachmittag ausgetragen, also wurden sie in Indien zu einer guten Sendezeit ausgestrahlt. Sie gewann eine Medaille, nicht viele Inder haben das geschafft. Ihre Hoffnung war: Vielleicht sah jemand zu, der sie nun unterstützt wird. Vielleicht aber auch nicht. Am Ring jedenfalls saß keiner, der berühmt und reich und wichtig ist. Da war nur viel Boden.

© SZ vom 06.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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