Als Abass Baraou noch ein kleiner Mann war und zugleich ein Boxer mit großen Ambitionen, schaltete er am Samstagabend regelmäßig den Fernseher ein, um seine Idole zu sehen. Die Klitschko-Brüder und ihre einsame Dominanz. Arthur Abraham und sein ehrenhafter, wenn auch hoffnungsloser Versuch, beim sogenannten Super-Six-Turnier mit den Besten im Supermittelgewicht mitzuhalten. Felix Sturm, der immer Felix Sturm blieb, auch wenn er sich von einem feinen Techniker irgendwann zu einem Bodybuilder wandelte. Sturm kämpfte regelmäßig in Baraous Heimatstadt Oberhausen, in einer Halle, die damals noch König-Pilsener-Arena hieß. "Damals", sagt Baraou heute, "habe ich mir gedacht: Eines Tages werde ich auch ein großer Mann im Fernsehen sein."
Baraou ist inzwischen 29 Jahre alt, für einen Boxer ist das ein gutes Alter, den jugendlichen Schwung paart er im besten Fall mit Ringintelligenz, mit dem, was Boxer Auge nennen, obwohl es eher das Gefühl ist, den nächsten Schlag zu erahnen, bevor er zu sehen ist. Baraou hat all das. Schon vor fünf Jahren hatte Ulli Wegner, der einst auch Abraham zum Weltmeister formte, gesagt: "Ich hatte selten einen so talentierten Boxer wie Abass unter meinen Fittichen." Ein talentierter, intelligenter, erfahrener Boxer braucht jedoch spätestens im Alter von 29 Jahren auch die Bühne, um zeigen zu können, was für ein großer Mann er im Profigeschäft sein kann. Und hier beginnt das Problem für Baraou.
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Nachdem er bei den Amateuren Europameister und WM-Dritter geworden war, unterschrieb er 2018 einen Vertrag beim Profi-Team Sauerland, und hätte er zehn, zwanzig Jahre früher dort unterschrieben, wäre es nun schnell gegangen: Alle hätten sein Potenzial gelobt, er hätte innerhalb kurzer Zeit viele Kämpfe gegen verhalten talentierte Gegner bestritten, hätte bald eine hübsche Kampfbilanz gehabt, erste Auftritte im Fernsehen, und dann einen WM-Kampf gegen einen Furcht einflößend aussehenden Gegner aus Südamerika oder Osteuropa, den zwar in der Szene niemand kannte, aber das musste dem deutschen Box-Publikum ja keiner verraten. Damals klappte das so. Ach ja, den WM-Kampf hätte er natürlich gewonnen. Lange her.
Inzwischen fehlen im deutschen Boxen die Millionensummen, die die TV-Sender noch in den Klitschko-Abraham-Sturm-Jahren gezahlt hatten. Es fehlen zwei, drei Generationen an Boxbegabungen, um mehrere hochklassige Veranstaltungen im Jahr organisieren zu können. Es fehlt also die ganz große Bühne. Baraou, der das bereits recht düstere Ende der besseren Jahre beim Sender "Sport 1" noch erlebt hatte, sagt: "Wir waren mal eine der führenden Nationen. Aber inzwischen ist Deutschland in der Boxwelt nicht mehr vertreten."
Es gibt weiterhin vereinzelte Talente, die auch international beachtet werden. Agit Kabayel, Europameister im Schwergewicht, in 24 Kämpfen ungeschlagen. Nina Meinke, die sich mit den Besten der Welt misst, am Samstag fordert sie in Puerto Rico Amanda Serrano heraus, die Weltmeisterin im Federgewicht der Verbände WBA, WBO, IBF und IBO. Und eben Abass Baraou, der an diesem Freitag in London gegen den Briten Sam Eggington um die EM kämpft (und dafür eine Fernsehbühne bei DAZN bekommt).
London? Miami? "Wenn du das nächste Level erreichen willst, musst du also dorthin gehen, wo das Boxen noch boomt."
Für Baraou ist es der 16. Kampf, für einen wie ihn, der täglich im Gym beim Training war, muss es eigentlich heißen: erst der 16. Aber Sauerland (inzwischen aufgegangen in Wasserman Boxing) veranstaltet in Deutschland nicht mehr, und so war Baraou gezwungen, neue und eigene Wege zu gehen. "Als Boxer kannst du in Deutschland nur trainieren. Ich wusste also: Wenn ich hier bleibe, geht mein Niveau runter. Wenn du das nächste Level erreichen willst, musst du also dorthin gehen, wo das Boxen noch boomt."
2019, nachdem Wegner gesundheitsbedingt seine durchaus legendäre Trainerkarriere beendet hatte, beschloss Baraou, nach London zu ziehen. Er trainierte im Gym von Adam Booth, einem der größten Namen dort, aber Baraou war für Booth ein Boxer von mehreren, er schickte ihn in fast keine Kämpfe. Im vergangenen Jahr zog Baraou ein weiteres Mal um, nach Miami zu Trainer Jorge Rubio. Früher, das weiß Baraou, wäre der Weg an die Weltspitze für ein deutsches Talent wie ihn leichter und schneller gewesen. "Ich kann mir aber nicht wünschen, dass es anders wäre, und dann kommt es so", sagt er. "Und ich habe das Gefühl, dass ich jetzt gut dabei bin."
Weil er gezwungen war, einen neuen Weg zu gehen, war er ja auch gezwungen, an sich als Boxer zu arbeiten, und nicht nur an sich als Fernsehfigur.
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Denkt er an die Anfänge seiner Profikarriere in Deutschland zurück, denkt Baraou an einen Mann, der durch den Ring gehüpft ist, der sich noch bewegt hatte wie ein Amateurboxer. In London lernte er, ruhiger zu kämpfen, sich auf wenige, dafür effektive Schläge zu konzentrieren. Und er fing an, die Defensivarbeit ernst zu nehmen, tauchte nach seinen eigenen Schlägen ab, rollte unter den Armen seiner Gegner hindurch. In Miami dann ist er noch schneller geworden, nutzt er bei seinen Schlägen noch mehr Winkel, bewegt er seinen Körper noch mehr, sodass die Gegner auch immer wieder ins Leere schlagen. Baraou glaubt, dass er in Miami noch viel lernen kann, er sagt aber auch: "Ich bin im Flow."
Bevor er Profi geworden war, hatte Baraou sich selbst als Ziel gesetzt, spätestens 2025 um einen WM-Titel zu boxen. Eggington, sein Gegner an diesem Freitag, ist einer, den er auf diesem Weg schlagen müsste - und zugleich ist dieser doch so unangenehm und gefährlich, dass für Baraou der Sieg nicht garantiert ist. Sollte er gewinnen, das hat der Weltverband WBA am Donnerstag mitgeteilt, dürfte er deren Weltmeister herausfordern.
Es ist kein leichter Weg, den Baraou geht. Aber sollte er auf diesem erfolgreich sein, werden sie ihn dafür weltweit in der Boxszene respektieren. Vielleicht sogar in Deutschland.