Behindertensport:Mit Prothese im Vorteil?

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Bringt die Prothese nun einen Vorteil beim Absprung oder nicht? Markus Rehm darf noch immer keine Medaillen bei den nichtbehinderten Leichtathleten holen. (Foto: Henry Browne/Action Images/Reuters)
  • Weitspringer Markus Rehm gewinnt bei der Para-WM in London Gold - doch zufrieden ist er nicht.
  • Lieber würde er erst in zwei Wochen bei der WM der Nichtbehinderten antreten. Eine Regeländerung, die ihm eine Teilnahme ermöglichen würde, hat der Leichtathletik-Weltverband IAAF noch nicht beschlossen.
  • Rehm glaubt, dass er das ohnehin nicht mehr miterleben wird, doch er hat eine andere, realistischere Hoffnung.

Von Sebastian Fischer, London/München

Markus Rehm ist Weltmeister geworden, er sprang rund einen Meter weiter als der Zweite. Er hat sich darüber geärgert. Nach seinem letzten Versuch im Weitsprung-Wettbewerb bei der Para-Leichtathletik-WM in London am Montagabend legte er die Stirn in Falten, winkte ab. Rehm wusste, dass ihn dabei die Kameras filmten - egal. Für ihn war es ein Moment mitten in einem größeren Wettkampf, der erst Anfang August endet. Ein Wettkampf, von dem er von da an wusste: Er wird ihn wohl nicht gewinnen.

Rehm, 28, ist der herausragende Athlet in diesen Tagen in London. Dort, wo für die Veranstaltung geworben wird, hängen zwei Bilder nebeneinander: Eines zeigt Usain Bolt, der bei der Leichtathletik-WM in zweieinhalb Wochen zum letzten Mal antreten wird. Bolt, der schnellste Sprinter der Geschichte, scheint noch immer über seiner Sportart zu schweben. Das andere Bild zeigt Rehm, den bekanntesten Behindertensportler. Er schwebt zwischen den Welten.

Rehm wurde selbst bei den Paralympiern als Störenfried wahrgenommen

Rehm hat seine Geschichte in den vergangenen Jahren über seine Nische hinaus bekannt gemacht. Genau acht Meter weit ist er am Montag gesprungen, seine persönliche Bestleistung liegt bei 8,40 Metern, womit er bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio Gold gewonnen hätte. Rehm wollte in diesem Jahr bei der WM der Nichtbehinderten mitspringen, die an gleicher Stelle zwei Wochen später stattfindet. Doch er darf nicht, weil noch immer nicht zweifelsfrei geklärt ist, ob er beim Absprung wegen seiner Prothese unterhalb des Knies am rechten Bein einen Vorteil hat. Deshalb bastelt er sich seinen eigenen Wettkampf: Wenn am 5. August der Weltmeister im Weitsprung feststeht, wird er die Ergebnisse vergleichen, "sofort googlen", sagt er. Diesmal werden die Besten auf zwei Beinen vermutlich weiter springen.

Es ist etwas leiser geworden um Rehm seit den Paralympics im vergangenen Jahr in Rio. Er selbst ist mehr als zuvor um den Ton seiner komplizierten Forderungen nach Inklusion im Leistungsport bemüht. "Ich bin kein Störenfried", sagt er. Als solcher wurde er irgendwann in Teilen beider Welten wahrgenommen: Paralympische Athleten sahen sich um Aufmerksamkeit betrogen, vielen ist die Vergleichbarkeit mit den Leistungen Nichtbehinderter zuwider. Und von denen wiederum sehen manche nur die Prothese. Er höre die abfälligen Sprüche bei jedem Wettkampf, sagt Rehm, "zugegeben, ganz easy ist es nicht".

Bei den deutschen Meisterschaften ist es mittlerweile etabliert, dass er außerhalb der Wertung teilnimmt, dort sprang er Anfang Juli 8,19 Meter, vier Zentimeter weiter als der deutsche Meister Julian Howard. Rehm wollte dafür keine Medaille, er bestand darauf, die ersten Drei zunächst ihr Siegerfoto machen zu lassen, bevor er sich dazustellte. "Ich stelle keine Forderungen, die abstrus sind", findet Rehm. Er wünscht sich dasselbe Szenario auch bei internationalen Wettkämpfen, mehr nicht. Doch auch das ist nicht so easy.

Im März 2016 wurde beim Weltverband IAAF eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit dem Fall Rehm beschäftigt. Es gab ein Treffen im April, und eines im Juli nur zwischen Rehm und dem damaligen Interims-Generalsekretär Jean Garcia. Die Treffen, so erzählt es Rehm, hätten mit verschränkten Armen begonnen, doch nach und nach sei klar geworden, dass die Vorstellungen gar nicht so verschieden seien. Probleme, sagt Rehm, seien vor allem in der Anwendung seines Falls auf Laufdisziplinen aufgetaucht, wo ein paralympischer Sportler wie einst der Südafrikaner Oscar Pistorius einen Nichtbehinderten ersetzen müsste, würde er sich qualifizieren. Schließlich ist der Platz auf acht Bahnen begrenzt. Bei den technischen Disziplinen gebe es das Problem nicht, sagt Rehm. Doch ein weiteres Treffen der Arbeitsgruppe fand bis heute nicht statt.

Vom Weltverband heißt es auf Anfrage, die Geschäftsführung habe die Sache am 11. April 2017 diskutiert. Es sei um eine mögliche Regeländerung gegangen, "sollte Markus Rehm die Norm für die Weltmeisterschaften erfüllen und vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) nominiert werden. Vor dem Hintergrund (...) seiner Nicht-Nominierung für London, ist zu erwarten, dass sich die IAAF-Arbeitsgruppe im Herbst trifft, um weiter zu diskutieren". Dies allerdings gleicht einem Zirkelschluss. Denn, erklärt Rehm, zunächst brauche der DLV eine klare Regel, um ihn zusätzlich zu den innerhalb der Wertung startenden Athleten nominieren zu dürfen. Es bleibt kompliziert.

Realistischer sind wohl Rehms Hoffnungen, zukünftig an Diamond-League-Meetings teilzunehmen. Zwar bekam er jüngst aus London und Rom Absagen, die Veranstalter seien unsicher gewesen, hieß es. Doch das IAAF-Regelwerk lässt sich bereits jetzt so lesen, dass es die Teilnahme von Athleten, die mechanische Hilfsmittel wie Prothesen in Anspruch nehmen, an allen Wettbewerben außer WM und Olympia außerhalb der Wertung gestattet. Rehm hofft auch auf die Europameisterschaften in Berlin im kommenden Jahr. Doch er sagte in London auch, dass er den Ertrag seiner Arbeit womöglich selbst als Athlet gar nicht mehr erleben werde.

In den vergangenen Monaten hat er mehr über seinen Anlauf nachgedacht

Markus Rehm sagt wenig unüberlegt, er wird von einer Kommunikations-Agentur beraten. Er hat in den vergangenen Monaten eher still trainiert, hie und da einen Facebook-Post in die Welt gesetzt, weniger über Inklusion und mehr über seinen Anlauf nachgedacht. Er kommt mit seiner Prothese schwer in den Laufrhythmus, weiß meistens schon nach drei Schritten, ob der Sprung weit wird. Oft verschenkt er beim Absprung so viel, dass er glaubt, er könne mit einem besseren Anlauf weiter als 8,50 Meter springen. Beim Wettkampf am Montag allerdings traf er den Balken und blieb trotzdem unter seinen Möglichkeiten. Dass er Weltmeister wurde, war kaum mehr als standesgemäß.

In London hat Rehm beim Abendessen mit anderen Athleten über seine Forderungen an den Weltverband gesprochen, oft kontrovers, sagt er. London ist für ihn ein besonderer Ort, dort gewann er 2012 erstmals paralympisches Gold, dort fühlte er den paralympischen Geist und ließ sich anstecken von der Euphorie der Menschen. Er erinnert sich an La Ola in der Tube, der U-Bahn der britischen Hauptstadt. Rehm sagt, auch das oft: "Ich bin ein paralympischer Athlet." Ihm liege der Sport am Herzen, der Kampf für die Sache und nicht für sich selbst. Wer ihn wirklich kenne, der wisse das.

© SZ vom 19.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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