Leichtathletik:"Die Australier schätzen ihren Sport mehr als die Deutschen"

Lesezeit: 4 min

Vanessa Low bei den Paralympics 2016 in Rio, wo sie die Weitsprung-Konkurrenz mit neuem Weltrekord (4,93 m) für sich entschied. (Foto: Jens Büttner/dpa)
  • Deutschlands Behindertensportlerin des Jahres 2016 kann es kaum abwarten, bald eine Australierin zu sein.
  • Vanessa Low ist spätestens seit dem Gewinn der Goldmedaille im Weitsprung bei den Paralympics in Rio ein Aushängeschild des deutschen Behindertensports.
  • Low ist nach den Rio-Spielen nach Australien zu ihrem Freund gezogen, um künftig für das Land starten zu können, muss sie die Staatsbürgerschaft wechseln.

Von Sebastian Fischer, Leverkusen

Den Ort, an dem sie laufen lernte, wird sie nicht vergessen, aber sie hat ihn glücklich verlassen. Vanessa Low lächelte, obwohl sie zum letzten Mal im Leverkusener Leichtathletik-Stadion die 100 Meter gesprintet war, der Stadionsprecher ein letztes Mal ihren Namen rief und sie die Kollegen zum Abschied umarmte. "Natürlich ist ein bisschen Wehmut dabei", sagte sie, als sie danach auf der Tartanbahn bei den Startblöcken saß, um vom nächsten Kapitel ihres Lebens zu erzählen. Deutschlands Behindertensportlerin des Jahres 2016 kann es kaum abwarten, bald eine Australierin zu sein.

Eine Sportbewegung wie die paralympische, die aus der Nische in die Öffentlichkeit strebt, um Menschen mit Behinderung das Sporttreiben nahezubringen, lebt von ihren Identifikationsfiguren. Markus Rehm, der mit Prothese so weit springt wie die Besten der Welt auf zwei Beinen, oder der Sprinter Heinrich Popow, der neulich mit einer Prothese bei der RTL-Sendung "Let's Dance" auftrat und fortan von der Klatschpresse verfolgt wird. Low, 26, die als 15-Jährige nach einem Unfall ihre Beine verlor, passt in diese Reihe, spätestens seit dem Gewinn der Goldmedaille im Weitsprung bei den Paralympics in Rio.

Sie spricht eloquent über ihr Athleten-Leben mit Behinderung, sie wählte 2012 für die SPD den Bundespräsidenten, saß im Fernsehstudio bei Markus Lanz. Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS), nennt sie ein "Aushängeschild". Eines, das der deutsche Sport nun verliert.

Ein paar Menschen neben ihr hielten die Tränen zurück am Freitag, als Low sich in Leverkusen sentimental verabschiedete. Dort, wo sie nach ihrem Unfall mit dem Sport begann und erstmals auf Prothesen sprintete. Lows Entschluss sei "bedauerlich und traurig", sagte Beucher. Andererseits habe der Verband individuelle Lebensprofile zu respektieren. Manchmal gibt es Wichtigeres als den sportlichen Ruhm für sich und das Land. Die Liebe zum Beispiel.

2009 die erste Medaille für Deutschland

Low ist nach den Rio-Spielen nach Australien zu ihrem Freund gezogen, dem paralympischen Sprinter Scott Reardon. Beiden lernten sich 2013 bei einem Wettkampf in London kennen, als sie gemeinsam auf ihre Medaillen warteten. Seither führten sie eine Fernbeziehung, doch sie wollten zusammenziehen, weshalb es für Low nur die Alternative gab: Mit dem Sport aufhören - oder für Australien starten.

Das Problem dabei ist eine Regelung, die es ausländischen Sportlern in Australien nur für eine begrenzte Zeit erlaubt, auf australischen Anlagen mit australischen Trainern, Ärzten und Physiotherapeuten zu trainieren. Beucher schüttelt den Kopf, wenn er darüber spricht, es gibt die entsprechende Regel auch in Deutschland, und er will sie ändern: "Das ist nicht zeitgemäß in einer Welt, die zusammenwächst." Beucher wünscht sich, dass der Sport über die Grenzen denkt. Ein wenig so, wie es Vanessa Low immer versucht hat.

Nach ihrem Unfall - sie stürzte im Gedränge vor einen Zug - ging sie zwei Jahre lang mit Prothesen in die Gehschule. Aufstehen, hinsetzen, Treppen laufen. Als sie 2008 für ein Sichtungstraining zu Bayer Leverkusen kam, empfahlen sie ihr dort, Sitzvolleyball zu spielen oder schwimmen zu gehen, alles andere sei unrealistisch nach zwei Oberschenkelamputationen. Doch Low wollte nicht schwimmen, sie wollte laufen, unbedingt. "Man darf seinen Sport nicht nur gerne machen", sagt sie, "man muss ihn lieben." 2009 gewann sie ihre erste Medaille für Deutschland.

Ihre Eltern konnten es zunächst nicht verstehen, dass künftig die australische anstatt der deutschen Hymne gespielt wird, wenn sie gewinnt. Andererseits lebte sie längst nicht mehr in Deutschland. 2013, nach den für sie enttäuschenden Paralympics in London, zog sie in die USA, um sich von einem Privattrainer auf Rio vorbereiten zu lassen, in einer Gruppe mit Footballspielern und Basketballern. Low hat nicht mehr richtig zum deutschen Team dazugehört, manche Kollegen kannte sie nur von Bildern. Doch in der Leichtathletik, sagt sie, "ist es wichtig, sich als Athletin zu identifizieren, unabhängig vom Land".

Low ist eher eine Patriotin für ihren Sport. Und sie ist immer noch eine Sportlerin mit großen Zielen.

Am Freitag in Leverkusen ist sie über 100 Meter Letzte geworden, sie lief ihrer Bestzeit um mehr als eine Sekunde hinterher. Es war ihr einziger Auftritt in dieser Saison, zur WM in London Ende Juli reist sie als Kommentatorin. Nach Rio zwang sie ein Ermüdungsbruch im Rücken zur Pause, eine Verletzung, die für Prothesensprinter das Karriereende bedeuten kann. Aus dem Rücken zieht Low ihre Kraft für ein Laufen wie auf Stelzen, so hält sie das Gleichgewicht, es gibt kaum anspruchsvollere Disziplinen in der paralympischen Leichtathletik. Low tastet sich in der Reha gerade vorsichtig wieder an den Sport heran. Ihr Ziel sind die Paralympics in Tokio 2020, 2016 gewann sie über 100 Meter Silber. "Ich weiß, dass ich noch mal schneller laufen kann", sagt sie. Low glaubt, dass die Voraussetzungen dafür im australischen Team gut sind: "Die Australier schätzen ihren Sport mehr als die Deutschen."

Low mag den australischen Lebensstil: Draußen sein, essen gehen, kaum Vorschriften.

Low ist ausgebildete Mediengestalterin, sie studiert nebenbei. Doch in Australien, sagt sie, könne sie bald als Profisportlerin leben - wenn sie sich für die Sportförderung qualifiziert, in der Behindertensportler gleichgestellt sind. Dafür braucht sie die Staatsbürgerschaft. Zum Aufnahmetest kann sie sich in knapp vier Monaten anmelden, sie lernt schon über australische Kultur und Geschichte, Ned Kelly, die Aborigines. Sie ist gereist, war in Melbourne, Sydney und zum Trainingslager an der Goldküste, sie lebt und trainiert in Canberra. Low mag den australischen Lebensstil. Draußen sein, essen gehen, kaum Vorschriften, "könnte schlechter sein". Wenn sie mit Briten Englisch spricht, halten die sie schon für eine Australierin.

Low ist glücklich, das hat auch ihre Eltern überzeugt. Sie findet, dass Deutschland nicht so traurig sein sollte, wegen ihr. "Es gibt viele junge Athletinnen, die das neue Gesicht des Behindertensports werden können", sagt sie. In Leverkusen lief ihr ein 13 Jahre altes Mädchen entgegen, das vor Jahren auf Krücken kam, Low erinnerte sich. Nun trug sie Sportprothesen. Sie hat laufen gelernt, weil sie es liebte. Sie hat es gemacht wie ihr Vorbild. Wie Vanessa Low.

© SZ vom 28.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusVerena Bentele im Interview
:"Die olympische Idee ist etwas sehr Zerbrechliches"

Die zwölffache Paralympics-Siegerin Verena Bentele zieht eine Bilanz nach Rio: Sie kritisiert die Zurückhaltung von IOC-Chef Thomas Bach gegenüber den Paralympics und betont das Potenzial des Behindertensports.

Interview von Boris Herrmann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: