Als der Riese zum FC Bayern kam, gab es eine Revolte. Hunderte hielten Selbstgebasteltes in die Höhe, darauf die Botschaft einer Ablehnung: "Koan Neuer!" Der FC Bayern, damals noch personifiziert durch die Sturheit des Uli Hoeneß, holte ihn trotzdem, gegen alle Widerstände, besonders aus der Südkurve. Neuer habe als Jugendlicher im feindlichen Lager, bei den Ultras des FC Schalke 04, gestanden, hieß es, so einer dürfe niemals das Tor des FC Bayern hüten.
Heute, vier Jahre später, ist eine erstaunliche Metamorphose abgeschlossen. Keiner repräsentiert die über Jahrtausende gewachsene Selbstgewissheit des Rekordmeisters, seinen Mia-san-mia-Status, derzeit so unwiderstehlich und einschüchternd wie dieser Import aus dem tiefsten Ruhrgebiet.
Weiterhin läuft sein Einbürgerungsverfahren, geht es doch um eine einmalige Form von Doppel-Staatsbürgerschaft. Zwar würde Neuer nie auf die Idee kommen, seine Wurzeln zu verleugnen, trotzdem grölt keiner inbrünstiger vom Rathausbalkon, wenn dort mal wieder frische Trophäen ausgestellt werden, als dieser doch schon 29-Jährige mit dem Lausbuben-Gesicht: "Ein Schuss! Ein Tor! Die Bayern!" Neuer, das Zwitterwesen, das Münchner Feierbiest, hat im Sepp-Maier- und Olli-Kahn-Land den Staffelstab übernommen. Dazu gibt es längst keine zwei Meinungen mehr.
Pep Guardiola macht einen Klappstuhl im DFB-Pokal berühmt - doch der ist danach stinksauer: Im Interview spricht das Möbelstück über die Spuren, die der Bayern-Trainer hinterlassen hat.
Weil das so ist, wird auch kaum jemand beklagen, dass das Elfmeterschießen in Leverkusen ohne Kapitän gewonnen wurde. Zumindest ohne die Kapitänsbinde. Und dies in einem Klub, in dem Rituale so wichtig sind, dass bei Neuers Einzug in München eigens ein Friedensgipfel mit den Ultra-Gruppen verabredet werden musste. Der Verhaltenskodex, der dort entwickelt wurde, soll dem Torwart das Tragen einer Lederhose zwar erlaubt, das Küssen des Klubwappens jedoch ausdrücklich verboten haben.
Nun aber legte er vor dem Elfmeterschießen einfach jene Kapitänsbinde ab, die einst Beckenbauer, Breitner, Augenthaler trugen - Neuer hatte sie im Spiel vom ausgewechselten Philipp Lahm übernommen. Allerdings tat er es mit Erlaubnis vom Schiedsrichter, er habe sich, so Neuer, "eingeschränkt" gefühlt. Der vom Stoff befreite linke Arm war sodann reflexstark dabei, als sofort der erste Leverkusener scheiterte.
Thiagos brutales Foul gegen Kießling zeigt, dass sich der FC Bayern im absoluten Grenzbereich bewegt. Die Münchner beschäftigt nach dem knappen Sieg gegen Leverkusen die Frage, wie weit sie allein ihre Leidenschaft tragen kann.
Solch kleine Episoden von den großen Spielen sind es, mit denen ein Torwart seine Legende stärkt. Die dazu führen, dass er weit über eine Körpergröße von ohnehin 1,93 Meter hinausragt. Dazu, dass die Stürmer ins Grübeln geraten, sich Torschusspanik entwickelt (Puhhh, der Riese!!!!), bevor sie schießen - wie es spektakulär Argentiniens Higuaín im WM-Finale von Rio widerfuhr.
Zum Neuer-Phänomen zählt auch, dass seine Körperspannung linear zur Herausforderung zu steigen scheint. Dass er seine wenigen Fehler bis heute nicht in den ganz großen Spielen macht, sondern sie in die kleinen, relativ unwichtigen einstreut. Mal gegen Kasachstan, immer wieder gegen Mönchengladbach. Für Manuel Neuer dürfte es deshalb eine weitere schöne Pokal-Botschaft gewesen sein, dass die lästigen Gladbacher in Bielefeld gescheitert sind.