Bayer Leverkusen:Hupen im Advent

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Grund zu jubeln: Leverkusen ist Tabellenführer. (Foto: dpa)

Leverkusen geht als Tabellenführer in den Spieltag - zum ersten Mal seit mehr als sechs Jahren. Im Klub geschieht gerade Aufregendes.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Immer besser: Florian Wirtz, 17, bei seinem hinreißenden Dribbling, das zum 3:1 führte. (Foto: Mika Volkmann/Imago)

Am Sonntag um 16:06 Uhr verbreitete "Radio Leverkusen" eine Meldung, die sich vielleicht anhörte wie ein typischer Fall von Lokalfunk, in Wahrheit aber von einem Ereignis kündete, das weit jenseits des Sendegebietes Aufsehen erregen sollte. "Geschmückte Traktoren fahren durch die Stadt", lautete der Titel der Nachricht, und schon der zugehörige Text kündete davon, dass in Leverkusen bedeutend mehr los ist, als man sich im Rest der Welt vorstellen mag. Tatsächlich war die Parade der Landmaschinen nur ein weiterer Akt von öffentlichen Schauspielen in der vermeintlich vom Chemiewerk beherrschten Kreisstadt. Radio Leverkusen erinnerte daran, dass neulich bereits verkleidete Nikoläuse auf Mopeds durch die Stadt gezogen waren.

Nach dem Start in Bergisch Neukirchen und Stationen unter anderem in Schlebusch und Steinbüchel machte der Konvoi gegen sieben Uhr am Abend auf der Bismarckstraße Station, und fortan verstanden in der anliegenden Bayarena die Fußballer ihr eigenes Geschrei nicht mehr. Während Bayer Leverkusen und die TSG Hoffenheim auf dem Rasen den elften Spieltag komplettierten, veranstalteten die Landwirte mit den Signalhörnern ihrer Traktoren ein phonstarkes Hupkonzert, das zwar eher nach E- als nach U-Musik klang, aber selbst die jungen Profis ansprach: Das sei "schon eine coole Aktion" gewesen, berichtete später Hoffenheims Offensivspieler Christoph Baumgartner: "Das hatten wir lange nicht mehr, dass man seine Gegenspieler auf dem Platz nicht verstanden hat."

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30 000 Fans im Stadion wären ihm aber noch lieber gewesen, fügte der Österreicher an, und am liebsten hätte er es sicher gesehen, wenn sich sein Team besser angestellt hätte im Duell mit dem sogenannten Werksklub. Doch die TSG reiste mit einer zu Recht als deftig empfundenen 1:4-Niederlage heim, und nur dem Trainer Sebastian Hoeneß fiel es ein, dafür Schiedsrichter Martin Petersen die Schuld zu geben. Dieser hatte zwar auf umstrittene Weise Einfluss genommen, als er beim Stand von 1:3 den TSG-Profi Florian Grillitsch mit der zweiten gelben Karte vom Platz stellte. Aber Leverkusen, das gab auch TSG-Angreifer Ihlas Bebou zu, "war schon sehr stark".

Als Leverkusen zuletzt Tabellenführer war, befand sich die Saison noch im Anfangsstadium

Was die Landwirte mit einem Defilee zur Unterhaltung der Profis begonnen hatten, das setzten sie am Abend mit einem Ehrensalut fort, der über die Stadionmikrofone die gesamte Fußballnation erreichte. Die Hupen der Traktoren ergaben den Soundtrack einer kleinen Revolution. Statt der üblichen Bayern steht jetzt Bayer 04 an der Spitze der Tabelle. Diese Aussicht durften die Leverkusener zuletzt vor sechs Jahren und drei Monaten genießen, auch damals folgten ihnen die Münchner in der Tabelle, aber gleich dahinter kamen schon Hannover 96 und der SC Paderborn, man befand sich noch im Anfangsstadium der Saison. Selbstredend wurde auch am Sonntag auf Leverkusener Seite abgewiegelt, und natürlich fiel dabei, wie im Statement von Julian Baumgartlinger, der Begriff "Momentaufnahme". Doch der 32 Jahre alte Bayer-Profi wollte es ausdrücklich nicht beim Aufsagen der Stereotype belassen. Momentaufnahme ja - "es ist aber auch etwas wert". Auch Cheftrainer Peter Bosz hatte keine Lust, langweilige Bekenntnisse von Bescheidenheit abzulegen: "Super, dass wir da stehen", sagte er, "lieber als irgendwo anders." Dieser Ehrenplatz ist der Lohn für konstant gute Arbeit, und er ist ein Zeichen dafür, dass bei Bayer gerade etwas möglicherweise Aufregendes geschieht.

Von jenen Helden, die 2014 für die - sehr kurzlebige - Tabellenführung sorgten, standen am Sonntag noch drei auf dem Feld: Lars Bender, Wendell und Karim Bellarabi. Baumgartlinger gehörte damals noch Mainz 05 an, er war dort längst ein etablierter Bundesliga-Profi, aber so stark wie heute hat er als 26-Jähriger nicht gespielt. Er war auch in den bisherigen vier Spielzeiten bei Bayer nie besser als in dieser Saison, in der er wegen der Verletzung von Kapitän Charles Aranguiz als ständiger Statthalter im defensiven Mittelfeld fungiert. Baumgartlinger bedient dort alle wichtigen Eigenschaften, die ein Sechser braucht: Defensive Autorität, spielerisches Geschick, Überblick, Sinn für Geschwindigkeit. Man könnte ihn glatt für den Kapitän halten.

Sollte jemand das Geheimnis des immer noch unbesiegten Tabellenführers erklären wollen, käme er am universellen Baumgartlinger nicht vorbei, aber auch nicht am unentwegt besser werdenden Angreifer Leon Bailey, am extrem einflussreichen Nachwuchsstar Florian Wirtz, am wiederentdeckten Torjäger Lucas Alario oder am sowohl kantigen wie geschmeidigen Stopper Edmond Tapsoba. Nicht mal Jonathan Tah dürfte man auslassen, der es unlängst beim 0:6-Länderspiel in Sevilla hinbekam, unter all den unglücklichen DFB-Spielern ungut aufzufallen. Zur zweiten Hälfte eingewechselt, verbreitete er damals Angst und Schrecken - aber nur bei den eigenen Kollegen. Das darf man jetzt so schonungslos sagen, da sich Tah seitdem auf wunderliche Weise wieder in jenen Tah verwandelt hat, der als verdienter Nationalspieler die Gegner statt die Mitspieler schockierte. Die Mannschaft hat ihn aufgefangen, und darin liegt im Moment wohl das Erfolgsrezept: Dieses Bayer 04-Team verwirklicht zurzeit sowohl totales Teamwork wie auch die freie Entfaltung jedes Einzelnen.

So gut wie vielleicht noch nie: Leon Bailey (rechts neben Moussa Diaby), 23, nach dem ersten seiner zwei Tore gegen Hoffenheim. (Foto: Mika Volkmann/Imago)

"Alle sehen, dass wir einen guten Lauf haben", hat Peter Bosz am Sonntag gesagt. Der Lauf lässt die Spieler vergessen, dass sie Anlass hätten, an all den Einsätzen zu ermüden. Doch statt überspielt ist Bayer auf ideale Weise eingespielt. Am nächsten Samstag kommt der FC Bayern, Gelegenheit für ein neues adventliches Hupkonzert.

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