Otto Rehhagel kam spät auf das Feld. Er hatte sich noch umziehen müssen. Das kurze Interview vor dem Spiel, das gab er noch im Anzug. Pünktlich zum Anpfiff in Augsburg saß er dann im Trainingsanzug auf der Bank der Berliner Hertha. "Ich muss mich doch bewegen": Auch mit 73 Jahren will Rehhagel seinen Spielern so nahe wie möglich sein, nicht nur optisch.
Vor der Trainerbank hatte man eine kleine Absperrung errichtet, um Rehhagel vor allzu zudringlichen Fotografen zu schützen. Es sah ein bisschen aus, als würde eine Meute Schaulustiger ein seltenes Tier bestaunen. Die Augsburger Fans hinter der Bank winkten schüchtern. Rehhagel winkte huldvoll zurück. Nach elf Jahren und 148 Tagen nahm er wieder als Bundesligatrainer auf der Trainerbank Platz, beinahe 40 Jahre nach seinem Debüt.
Sein Comeback hatte er sich allerdings ganz anders vorgestellt. Nach 90 Minuten stand es 3:0 für Augsburg und Rehhagel wusste: Mit Griechenland Europameister werden ist schwer. Berlin 2012 in der Liga zu halten: nicht leichter. "Ich hoffe, dass genügend Qualität vorhanden ist", sagte er nach dem Spiel. "Doch wir sind auf einem Abstiegsplatz. Wir sind nicht Bayern München. Die Mannschaft hat seit Dezember kein Spiel mehr gewonnen. Es ist natürlich klar, dass man nicht davon sprechen kann, so zu spielen wie der FC Barcelona."
Der neue Berliner Trainer hatte unter der Woche versucht, seiner Mannschaft wieder etwas Selbstvertrauen einzuimpfen. Es wurde viel gelacht auf dem Trainingsgelände. "Ich kenne Augsburg noch aus Hallers Zeiten", sagte Rehhagel über den Gegner. Helmut Haller war in Augsburg von 1973 bis 1976 aktiv.
Auf dem Trainingsgelände machte Rehhagel schwungvoll vor, wie ein guter Kopfball auszusehen hat, und holte sich in der Kabine Applaus ab, als er davon berichtete, mit seiner Frau Beate seit fast fünfzig Jahren verheiratet zu sein. Und tatsächlich wirkten die Berliner zu Spielbeginn nicht mehr so zögerlich und verzagt wie in den vergangenen Wochen. Dabei nahm Rehhagel im Vergleich zum 0:1 gegen Dortmund nur wenige Änderungen vor. Lediglich Pierre-Michel Lasogga kam für Nikita Rukavytsya in die Mannschaft.
Vom Angsthasen-Fußball unter Rehhagel-Vorgänger Michael Skibbe war in den ersten Minuten nichts mehr zu sehen. Die Mannschaft versuchte, durch Ballbesitz Dominanz auszuüben, präsentierte sich nicht wie ein Team, das jetzt seit zwölf Bundesligaspielen nicht mehr gewonnen hat, dem in der Rückrunde erst ein Tor gelungen ist, das sechs Niederlagen in Serie hinnehmen musste, das im Jahr 2012 noch ohne Punktgewinn dasteht - und das damit die schlechteste Bundesligamannschaft des Jahres ist.
Und wer weiß, wie das Spiel ausgegangen wäre, wenn in der 10. Minute der Augsburger Paul Verhaegh den Ball nicht von der Linie gekratzt hätte. Der Berliner Spielmacher Raffael hatte zuvor das Spielgerät elegant an Simon Jentzsch vorbeigelegt. Vielleicht wäre mit einem frühen Tor der sprichwörtliche Knoten geplatzt, vielleicht wäre der Rehhagel-Effekt voll zur Geltung gekommen?
VfB Stuttgart in der Einzelkritik:Lässige Möchtegern-Boxer
Serdar Tasci agiert wie einst Thomas Berthold, Khalid Boulahrouz könnte auch gegen Marco Huck antreten - und William Kvist und Tamas Hajnal repräsentieren die Saison der Stuttgarter. Der VfB Stuttgart beim 4:1 gegen Freiburg in der Einzelkritik.
Stattdessen konterten wenige Minuten später die Augsburger gefährlich - und sofort wurde deutlich, dass Rehhagel die vergangenen Wochen voller Misserfolg noch nicht aus den Köpfen seiner Spieler herausreden konnte. Die Unsicherheit war plötzlich zurück. Mit Berliner-Mauer-Fußball hatte Rehhagel die Griechen zum EM-Titel geführt, die Hertha-Defensive wirkte jetzt jedoch alles andere als unüberwindbar. Thorsten Oehrl vergab die größte Chance für Augsburg, als es ihm in der 26. Minute gelang, einen Kopfball aus sechs Metern über das Tor zu bugsieren.
Auf der Bank kaute Otto Rehhagel da nervös auf den Nägeln seiner linken Hand herum. Berlin ist Rehhagels achte Trainerstation in der Bundesliga, das Spiel gegen Augsburg war sein 1182. als Trainer. Und doch: Er war nervös. "Eine positive Anspannung ist da", hatte er vor dem Spiel im feinen Zwirn gesagt. Jetzt, im Trainingsanzug, sprang er auf und versuchte die Hertha-Defensive mit einigen schnellen Anweisungen zu ordnen. Einen Libero - fast war man überrascht - hat er aber nicht aufgeboten.
Kein Aufbäumen
Rehhagel kam nach der Pause wieder als letzter aus der Kabine, seine Trainingsjacke hatte er ausgezogen, auf seiner Stirn stand, unter der immer noch bemerkenswert dunklen Haarpracht, der Schweiß. Die Ansprache in der Kabine war wohl intensiv ausgefallen. Doch sie verfing nicht. Schlafmützig kamen die Berliner aus der Kabine - und wurden dafür bestraft.
Fast unbedrängt kombinierten sich die Augsburger in der 61. Minute durch die Berliner Abwehr, bis Thorsten Oehrl freistand und mit einem trockenen Schuss ins rechte lange Eck Thomas Kraft im Berliner Tor keine Chance ließ. Und nur 99 Sekunden war es wieder Oehrl, wieder ins lange Eck, der für die Vorentscheidung sorgte.
Rehhagel hatte auf zwei Spitzen umgestellt, Rehhagel hatte in der Kabine alles gegeben, Rehhagel saß jetzt versteinert auf der Bank. Und seine Mannschaft bäumte sich nicht auf. In der 93. Minute machte Marcel Ndjeng das Debakel für Rehhagel perfekt, verwandelte souverän einen Konter. "Wir haben versucht, die Dinge spielerisch zu lösen, Augsburg hat um jeden Meter gefightet - wie es im Abstiegskampf eigentlich sein sollte." Zumindest bei der Spielanalyse machte Rehhagel alles richtig.
Noch nie, bei keiner seiner vielen Trainerstationen, hat Rehhagel sein erstes Spiel verloren. Doch auch im achten Lebensjahrzehnt gibt es für den Altmeister noch schmerzliche Premieren. Das richtungsweisende Spiel gegen Augsburg ging fast ohne Gegenwehr verloren, Hertha stürzte auf den Relegationsplatz ab, die Schwaben zogen in der Tabelle vorbei. Doch was nach diesem Nachmittag wohl am schwersten wiegt: die Aufbruchsstimmung, die Rehhagel in den vergangenen fünf Tage erzeugt hat, sie ist nach nur einem Spiel schon wieder verflogen. Komplett verflogen.