American Football:Ist ihm schnuppe

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Erfolgreich und trotzdem umstritten: Steelers-Coach Mike Tomlin. (Foto: imago images/Icon SMI)

Die unbesiegten Pittsburgh Steelers sind das Topteam der NFL. Trotzdem muss sich Coach Mike Tomlin Kritik gefallen lassen - er hat sein ganz eigenes Rezept gefunden, damit umzugehen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

"We do not care." Auf gut deutsch: Das ist uns völlig schnuppe. Das ist mittlerweile die Antwort von Mike Tomlin, 48, auf so ziemlich jede Frage, die ihm gestellt wird, und wenn Trainer so was sagen, ist es meist die genervte Reaktion auf eine unangenehme Situation. Der Coach der Pittsburgh Steelers sagt das jedoch gelassen, er hat diese Völlig-egal-Einstellung zum Mantra dieser Saison erklärt. Es ist eine Erklärung dafür, warum das Team als einziges in der American-Football-Liga NFL noch unbesiegt ist und sie in Pittsburgh T-Shirts verkaufen mit der Aufschrift: "We. Do. Not. Care." Es ist auch ein Hinweis darauf, wie Tomlin tickt.

"Er ist einer der fünf nettesten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe: einfühlsam, achtsam, mitfühlend", sagt Howard Maycon. Er war Offensive Lineman am College William & Mary, als Tomlin dort Wide Receiver gewesen ist. Nett ist jedoch nicht unbedingt ein positives Adjektiv für einen Football-Trainer, und genau das wurde Tomlin trotz aller Erfolge immer wieder zum Vorwurf gemacht. Ja, er war 2009 im Alter von 36 Jahren der jüngste Trainer, der jemals den Super Bowl gewonnen hat, das Endspiel um die NFL-Trophäe. Ja, er hat in den 14 Spielzeiten bei den Steelers noch nie eine negative Bilanz hingelegt. Ja, er hat den Verein achtmal in die Playoffs geführt.

Der Coach und sein Spielmacher: Mike Tomlin (rechts) zeigt in Pittsburgh gerade eindrucksvoll, dass er mit Diven wie Ben Roethlisberger umgehen kann. (Foto: Winslow Townson/AP)

In Pittsburgh meinten viele, die Steelers seien trotz des Trainers so erfolgreich

Aber: Hätte er nicht viel mehr Titel gewinnen müssen? War er womöglich zu lax im Umgang mit Spielern wie Quarterback Ben Roethlisberger, Running Back Le'Veon Bell oder Wide Receiver Antonio Brown? Die durften sich wie Diven aufführen und spielten dennoch immer. Tomlin galt als Players' Coach, als Freund der Spieler, der wegen mangelhafter Disziplin für Unmut in der Kabine sorgte und in entscheidenden Spielen strategische Fehler beging. In Pittsburgh waren viele der Meinung, dass die Steelers nicht wegen, sondern trotz Tomlin so erfolgreich waren.

Dessen Reaktion mittlerweile auf die Kritiker: Das ist mir völlig schnuppe.

Es begann im September, als Tomlin erfuhr, dass die Partie gegen Tennessee wegen positiver Covid-19-Tests beim Gegner verschoben werden musste und die Steelers deshalb bis zu den Playoffs 13 Partien ohne Pause absolvieren müssen; für gewöhnlich hat jedes NFL-Team zwischendurch ein Wochenende frei. Seine Reaktion: "We do not care." Als bei Topverteidiger Devin Bush zwei Wochen später das Kreuzband riss: egal, muss der Ersatzmann ran. Als die Steelers nur knapp gegen die deutlich schwächeren Dallas Cowboys gewannen und kritisiert wurden: schnuppe, ein Sieg ist ein Sieg. Wahrscheinlich würde Tomlin nun auch auf die Frage nach seiner Gesundheit antworten: Ist mir völlig egal.

Es wird deutlich, dass Tomlin die unkontrollierbaren Diven Bell (setzte eine Saison aus, um mehr Geld zu bekommen, und spielt mittlerweile durchwachsen bei den Kansas City Chiefs) und Brown (nach Problemen auf und abseits des Spielfelds die Nummer drei als Receiver bei den Tampa Bay Buccaneers) wenigstens einigermaßen unter Kontrolle hatte, und es wird deutlich, dass ein Players' Coach genau der Richtige ist für diese Steelers. Tomlin sei "der Grund für diese Bilanz", sagt Dwayne Woodruff, der 1980 den Titel mit den Steelers gewann und nun Richter in Pittsburgh ist: "Er hat dieses Team zusammengeführt in einer Saison, wie es sie noch nie gegeben hat."

Die Defensive fängt ligaweit die meisten Pässe ab

Sie haben tatsächlich einen interessanten Kader in Pittsburgh: Spielmacher Roethlisberger, 38, wirkt nach auskurierter Ellenbogen-Verletzung so fit und motiviert wie seit Jahren nicht - vielleicht auch deshalb, weil er keine anderen Diven neben sich dulden muss. Die jungen Passempfänger Juju Smith-Schuster, 24, Diontae Johnson, 24, James Washington, 24, und Chase Claypool, 22, funktionieren als Einheit ohne Allüren und verdienen gemeinsam (3,16 Millionen Dollar) weniger als ein Fünftel von dem, was Brown in seinem letzten Jahr bei den Steelers, 2018, gekriegt hat: 16,77 Millionen. Laufspieler James Conner, 24, hat sich als billigere, aber zuverlässige Variante erwiesen: Er bekommt in dieser Spielzeit 825 000 Dollar, Bell erhielt 2017 mehr als zwölf Millionen Dollar.

Das ist Geld, das die Steelers wegen der Gehaltsobergrenze in andere Mannschaftsteile investieren konnten. In die Offensiv-Linie zum Schutz des Spielmachers und Freiblocken von Lücken für die Laufspieler etwa, weswegen die Starspieler noch mehr glänzen können. Oder in die Defensive, die bislang ligaweit die meisten Pässe abgefangen (15) und am häufigsten den gegnerischen Spielmacher zu Boden gerissen hat (38 Mal). Vor allem aber: Es gibt kein Drama bei den Steelers, und das liegt in einer komplizierten Saison mit Corona-Pandemie und politischem Aufruhr an Tomlin und seinem Mantra.

Spieler berichten davon, wie er in Video-Konferenzen auf sie eingeht und ihnen Mut zuspricht, und schon am ersten Spieltag zeigte Tomlin, was er mit der Völlig-egal-Einstellung meint: Die Steelers trugen den Namen eines afroamerikanischen Teenagers aus Pittsburgh (Antwon Rose) auf ihren Helmen, der von Polizisten erschossen worden war. Alejandro Villanueva, ein früherer Soldat, wählte lieber den Namen eines schwarzen Soldaten (Alwyn Cashe), der in Irak gestorben war. So was kann für Unruhe sorgen, doch Tomlin sagte: "We do not care." Jeder durfte gedenken, wem er wollte, die Steelers gewannen. Sie wollen das Kontrollierbare kontrollieren, der Rest ist nebensächlich. Tomlin lebt es derzeit vor, er sei "ein wunderbarere Mensch, die Steelers spielen für ihn", sagt der ehemalige Mitspieler Maycon.

An diesem Spieltag empfangen die Steelers die Baltimore Ravens, die vor der Saison als zweitstärkstes Team der Liga hinter Titelverteidiger Kansas City galten. (Das Spiel sollte schon am Donnerstag stattfinden, an dem die Amerikaner Thanksgiving feiern, Truthahn essen und Football schauen - wegen einiger Corona-Fälle im Team der Ravens wurde die Partie aber zunächst auf Sonntag und zuletzt auf Dienstag verschoben.) Die erste Partie der Kontrahenten vor vier Wochen gewannen die Steelers 28:24, sie sind diesmal favorisiert, und es wird ihnen zugetraut, eine Saison ohne Niederlage hinzulegen. Tomlin hat bereits gesagt, dass ihn das nicht interessiere. Wenn die Playoffs beginnen, dann ist die Bilanz der Hauptrunde nämlich: völlig schnuppe.

© SZ vom 26.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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