Brasiliens Torwart:Alisson Becker, die deutsch-brasilianische Eiche

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Torwart mit extremer Reichweite: Alisson Becker, Liverpools Neuer, hier noch in der Trainingskluft des AS Rom. (Foto: Fabio Rossi/imago/LaPresse)
  • Am Sonntagabend startet Brasilien gegen die Schweiz in die Fußball-WM in Russland.
  • Mit dabei ist Alisson Becker von AS Rom, der einer der besten Torhüter im europäischen Klubfußball ist.
  • In Russland will er die 1:7-Schmach von der Heim-WM gegen Deutschland wettmachen.

Von Birgit Schönau

Es gab eine Zeit, da war der Torwart der brasilianischen Seleção ein lebendes Oxymoron. Torwart und Brasilien: zwei Begriffe, die sich gegenseitig ausschließen wie Grönland und Hitzewelle oder Feministin und CSU.

Zur Symbolgestalt des Oxymorons avancierte 1950 im unseligen Entscheidungsspiel der WM-Finalrunde gegen Uruguay der noch unseligere Schlussmann Moacyr Barbosa. Von einer ganzen Nation, leider seiner eigenen, wurde er zur Persona non grata erklärt, weil er den Siegtreffer von Alcides Ghiggia nicht hatte kommen sehen. Ghiggia täuschte einen Pass an, Barbosa fiel darauf herein - und schon drosch der Urugayer den Ball zum 2:1 ins Tor. Der arme Torwart kriegte danach nie wieder ein Bein auf die Erde, er sei schlimmer ausgegrenzt worden, als wenn er einen Mord begangen hätte, klagte Barbosa noch kurz vor seinem Tode im Jahre 2000.

In Wirklichkeit war der Torwart in Brasilien der Definition nach ausgegrenzt. Die anderen spielten - er musste das Spiel blockieren. Die anderen zelebrierten Freiheit, er hütete sein Gehege wie ein Wächter das Gefängnis. Die anderen waren Künstler, er wenig mehr als ein Hindernis für den Gegner. Die anderen wurden Superstars, Volkshelden, Rekordnationalspieler. Nelson Dida brachte es im Tor immerhin auf 90 Einsätze, aber er blieb weit abgeschlagen hinter dem Verteidiger Cafu mit 142 Spielen für die Seleção. Dida und Cafu wurden 2002 gemeinsam Weltmeister, es war das bisher letzte Mal für Brasilien.

Beim 1:7 gegen Deutschland vor vier Jahren stand Julio Cesar im Tor. Ein sehr guter Keeper, der die größte Demütigung der WM-Historie erlebte. Mit dem Schlusspfiff war seine Karriere beendet, aber Julio Cesar wurde nicht zu lebenslänglich verurteilt wie der arme Barbosa. Im digitalen Zeitalter kann sich die Seleção nicht mehr allein hinter dem Torwart verstecken. Und jetzt gibt es im brasilianischen Kasten auch kein Oxymoron mehr - sondern: Alisson Becker.

Er nennt sich schlicht Alisson, doch sein Nachname deutet auf deutsche Wurzeln hin. Alissons Ahnen kamen im 19. Jahrhundert aus dem Saarland in den Süden von Brasilien, siedelten nicht weit von der Grenze zu Uruguay. Dort, in Novo Hamburgo, ist Alisson 1992 geboren. Sein Vater spricht noch Deutsch, Alisson beherrscht die Sprache nicht. Aber in Rom, wo er seit zwei Jahren spielt, nennen sie ihn den Deutschen. "Solide, rational, kalt kalkulierend", schreibt La Repubblica über den 1,93 Meter großen Torwart mit den schlanken Fingern und den blauen Augen. Das sind Klischees, aber fest steht: Nicht nur Brasilien hat tatsächlich einen Torwart, auch die Roma hat einen, nachdem der Hauptstadtklub in den vergangenen zehn Jahren nicht weniger als drei brasilianische Schlussmänner engagiert hatte: Doni, Julio Sergio und Artur. So viel beharrliche Unerschrockenheit wurde erst mit Alisson belohnt, dessen Paraden die Roma nach 34 Jahren in ein Champions-League-Halbfinale befördert haben.

Seitdem gilt der 25 Jahre alte Brasilianer als einer der besten Torhüter des europäischen Klubfußballs. Liverpool wollte ihn haben, Real Madrid schachert seit Wochen um ihn und steht angeblich vor der Übernahme. 80 Millionen Euro fordert die Roma für O Goleiro Gato, den Katzenmann - ein Zehntel hatte Alisson gekostet. Eine der besten Investitionen der Vereinsgeschichte blüht, doch Trainer Eusebio Di Francesco will ihn nicht ziehen lassen. Woher einen nehmen, der nicht nur eiskalt pariert, sondern auch das Strafraumspiel derart gut beherrscht und außerdem den Ball so gezielt platziert wie Alisson? Seine Spezialität ist der präzise Abschlag, mit dem die Kugel weit vorn im gegnerischen Feld vor den Füßen des eigenen Angreifers landet. Dieser Torwart spielt mit, von wegen Oxymoron, und er spielt brasilianisch, ungerührt setzt er auch die Hacke ein. Übrigens neigt er durchaus anderen Künsten zu, vor allem der Musik. Alisson spielt Klavier und Gitarre, diese Hände können mehr als nur Bälle abwehren.

Der tief religiöse Katzenmann ruht in seinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein. Er orientiert sich nicht an Kollegen, außer an Claudio Taffarel, Weltmeister 1994, "weil der 15 Kinder adoptiert hat". Ein weiteres Idol ist ein Tennisspieler, nicht der deutsche Becker, sondern Gustavo Kuerten, ebenfalls Deutsch-Brasilianer. Zwischen Torwart und Tennisspieler gebe es Gemeinsamkeiten, findet Alisson, "im Grunde sind wir auf dem Feld beide allein gegen den Gegner". Dass er Kuertens Autobiografie gleich zum Lieblingsbuch neben der Bibel erhebt, hat indes einen anderen Grund: die Bewunderung dafür, wie die Tennislegende sich um den jüngeren, behinderten Bruder gekümmert hat, wie er den familiären Schicksalsschlag in soziales Engagement verwandelte. Kuerten stiftete einen guten Teil seiner Preisgelder an Behindertenorganisationen.

So etwas beeindruckt Alisson Becker, den Torwart mit den geschmeidigen Händen und den eisernen Prinzipien. Der Zeitung Repubblica vertraute er ungerührt an, er habe sich als Ehefrau lieber eine Kinderärztin ausgesucht "als irgendeine Schauspielerin, weil ein Arzt im Haus doch einfach nützlicher ist". Ein Mann der klaren Worte, dieser Alisson, im echten Leben genauso pragmatisch wie auf dem Fußballplatz. Bloß keine Mätzchen, bloß keine Show, gegen den spektakulären Strafraumflug ist Alisson fast so allergisch wie der Italiener Dino Zoff. "Während ich flog, schämte ich mich schon dafür", gestand Zoff einmal, als er gegen England nach einem Ball hechten musste. Und tatsächlich ähnelt Brasiliens junge Nummer eins dem alten Dino in seiner so unbrasilianischen Knorrigkeit. Alisson, die deutsch-brasilianische Eiche.

"Mein Land kann seit vier Jahren nicht schlafen"

In Russland will er das 1:7 wettmachen, gegen Deutschland natürlich, Becker gegen Neuer: "Als ich mit der Roma im Halbfinale fünf Tore von Liverpool kassiert habe, konnte ich die drei Nächte danach nicht schlafen. Mein Land kann seit vier Jahren nicht schlafen. Es geht nicht um verletzte Eitelkeit, sondern um Identität. Ein Spieler kann so etwas vergessen, denn er hat das nächste Spiel, um mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen. Aber ein Fußballvolk wie Brasilien nicht."

Siegen ist schön, sagt Alisson Becker, aber nicht alles: "Brasilien braucht Moral, braucht Politiker und Regierungen, die nicht korrupt sind." Der Torwart der Seleção als Volkstribun, das klingt nun wirklich wie ein Oxymoron. Ist vielleicht aber auch nur ein Zeichen dafür, dass für Brasilien jetzt alles möglich ist.

© SZ vom 16.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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