Grün - gelb - rot - violett: Mit dieser Skala lassen sich die Probleme der Bahn in Deutschland bemessen. Seit mehr als einem Jahr schreibt der Live-Zugmonitor der SZ für jede Fahrt eines Fernzugs mit, welche Verspätungen der Konzern im Internet den Reisenden mitteilt. Fünf Minuten, zehn Minuten, 15 Minuten und so weiter: Das ist das grobe Raster, in das die Pünktlichkeit auf bahn.de eingeteilt wird.
Jedes Mal, wenn ein Zug zu spät in einem Bahnhof ankommt, wird diese Angabe protokolliert. Erstmals hat die SZ nun die Fahrtenprotokolle eines gesamten Jahres ausgewertet, von April 2012 bis März 2013, von Frühling bis Winter. Die Ergebnisse erlauben Einblicke in das allgegenwärtige Problem der Pünklichkeit, wie es sie nie zuvor gegeben hat.
667.535 Verspätungen bei 3,28 Millionen Fahrten
Für jeden Fernbahnhof und jede einzelne Fahrtstrecke liegen nun detaillierte Daten vor, die Sie in einer interaktiven Karte (oben) abrufen können. Je röter und dunkler die Farbe, desto größer die Verspätungsquote und -dauer. Wechseln Sie zwischen ICE-Verbindungen, allen Verbindungen und den Bahnhöfen hin und her, klicken Sie auf die Linien oder Punkte, um Details zu erfahren. Auch gröbere Übersichten nach Zugtypen und Ländern, die der umfassende Datensatz ermöglicht, finden Sie dort.
Alles in allem wurden 3,28 Millionen Zugeinfahrten in Bahnhöfe mitgeschnitten. Bei 667.535 wurde eine Verspätung gemeldet - das ergibt eine Quote von 20 Prozent. Im Schnitt hatte jeder dieser Züge etwas mehr als 15 Minuten Verspätung. Auf alle Züge gerechnet heißt das: 3,1 Minuten verspätet ist ein durchschnittlicher deutscher Fernzug, wenn er in einem Bahnhof ankommt.
3,1 Minuten sind keine lange Zeit; eine Zigarette zu rauchen, dauert länger - und auf der Autobahn im Stau zu stehen, ist oft stressiger; es dauert länger, und man kann nebenher zum Beispiel kaum arbeiten. Diese Auswertung ist nicht als Generalanklage der Bahn zu verstehen, sondern als Analyse des Schienennetzes.
Als die SZ vor einem Jahr erstmals den Echtzeit-Zugmonitor vorstellte, mit dem sich live der Fernverkehr in Deutschland verfolgen lässt, und eine erste statistische Auswertung präsentierte, war die Resonanz enorm. Bahn-Mitarbeiter meldeten sich und sprachen über Hintergründe - dass der Konzern etwa immer weniger Pufferzeiten einplane, weil die Fahrgäste beim Umsteigen nicht lange warten und insgesamt möglichst knappe Fahrzeiten wollten. Das führe zu einem Dominoeffekt im Fahrplan: Eine Verspätung baue sich schnell auf und setze sich schnell fort, zum Beispiel, weil Züge aufeinander warteten.
SZ.de-Zugmonitor in Echtzeit:So verspätet ist die Bahn - live
Ein Klick, schon sieht man den verspäteten ICE - und was ihn aufgehalten hat. Der einzigartige interaktive SZ-Zugmonitor stellt live den Fernverkehr auf dem deutschen Schienennetz dar: Auf einen Blick sehen Sie Verspätungen, eine Echtzeit-Statistik und können Monate zurück in die Historie springen.
Das ist auch ein wesentlicher Grund dafür, warum laut Statistik ausgerechnet die schnellen, eng getakteten ICE-Züge am häufigsten verspätet sind (siehe Grafik). Die wichtigsten Schnellstrecken sind im Pünktlichkeits-Atlas oft rot. In Bundesländern wie in Sachsen, in denen kaum ICE verkehren, überwiegt dagegen das Grün. Auch ins Ausland funktionieren jene Verbindungen am pünktlichsten, bei denen keine Schnellzüge im Einsatz sind.
Im Klartext: Je größer das Geschwindigkeitsversprechen der Bahn auf einer Strecke, desto größer das Pünktlichkeitsproblem. Je geringer das Pünktlichkeitsproblem auf einer Strecke, desto langsamer ist die Bahn dort ohnehin unterwegs. Vermutlich entscheiden sich viele Fahrgäste gerne für prinzipiell schnellere, im Einzelfall unpünktlichere Strecken.
Die SZ analysiert das vergangene Bahn-Jahr in weiteren Texten im Detail. Alle Artikel sammeln wir hier. Vorab wollen wir aber auf zwei Rahmenbedingungen hinweisen:
Erstens sind die Daten in unserem Verspätungsprotokoll nicht völlig konsistent, unter anderem, weil immer wieder an einzelnen Tagen das Protokollprogramm ausgefallen ist. Sie sind aber viel konsistenter als bei der ersten Auswertung vor mehr als einem Jahr, weshalb wir näher an die Werte in den offiziellen Verspätungsstatistiken der Bahn herangerückt sind. Vor einem Jahr hatten wir noch deutlich bessere Werte als der Konzern. Aus diesem Grund verzichten wir auf Vorjahresvergleiche.
Nur so genau, wie die Bahn erlaubt
Zweitens basieren unsere Daten auf den Angaben, die die Bahn auf ihrer Internetseite "Wie pünktlich ist mein Zug?" zu einzelnen Verbindungen macht. Was dort über Verspätungen steht oder nicht steht, ist nicht zu überprüfen - 3,28 Millionen Zugeinfahrten binnen zwölf Monaten sind nun einmal nicht unabhängig zu erfassen. Damit hängt die Auswertung an der Akkuratheit der Bahn-Informationen.
So haben wir schon vor einem Jahr recherchiert, dass die Bahn auf der genannten Seite verbesserte Pünktlichkeitswerte ausweist. Der Konzern befürchtet: Würde er exakte Werte mitteilen, ein Zug dann aber auf der Strecke einen Teil der Verspätung wieder aufholen, müsste er im Bahnhof warten - weil sich Fahrgäste auf die exakte Uhrzeit verließen. So würde das Problem wachsen statt zu schrumpfen.
Wer sich durch den Pünktlichkeits-Atlas klickt, sollte deshalb nicht jede Zahl für hundertprozentig akkurat halten, sondern das große Bild im Blick behalten. Wo viel dunkles Rot ist, ärgern sich die Fahrgäste am meisten - dort liegen Herausforderungen für die Bahn und die Verkehrspolitiker: Das ist, was die interaktive Karte vor allem zeigt.