Radtour in Tschechien:Geschichtsstunden auf dem Elberadweg

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Der Radweg führt auch am Schloss Děčín vorbei, das am Zusammenfluss von Elbe und Ploučnice liegt. (Foto: Getty Images)

Wer in der Böhmischen Schweiz und weiter entlang der Elbe radelt, kommt durch Orte mit wechselvoller Historie. Und trifft Menschen, die einen neuen Zugang zur Vergangenheit suchen.

Von Antje Weber

An Orten wie diesen ist die Geschichte in Stein gemeißelt. Auf einer schroffen Felswand unter dem Děčíner Schloss kann jeder sie ablesen: anhand der Jahreszahlen, die dort die Pegelstände der Elbe markieren. Sehr weit oben steht die Zahl 2002. "Das war das letzte große Hochwasser, zwölf Meter", sagt Sven Czastka mit leichtem Schaudern in der Stimme. "Alle waren überrascht", erinnert sich der Stadtführer, denn in vielen Jahrzehnten zuvor war wenig Regen gefallen. Zwar hätte man angesichts früherer Markierungen gewarnt sein können, doch: "Das historische Gedächtnis fehlte."

Allmählich kommt es wieder, in jeder Hinsicht - und nicht nur in Děčín, sondern an vielen anderen Orten in Nordböhmen. Wer dort mit dem Fahrrad die Elbe entlangrollt, kann nicht nur über viele an Felsen und Häusern markierte hohe Pegelstände staunen, sondern auch jede Menge über die äußerst wechselvolle Geschichte dieser Gegend erfahren. Und wird dabei immer wieder auf Menschen wie den so lässigen wie nachdenklichen Stadt- und Radwanderführer Sven Czastka treffen; er gehört zur Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen, die den Blick für die Vergangenheit schärfen - und zugleich mit viel Energie den Aufbruch in die Zukunft gestalten.

In der sogenannten "Böhmischen Schweiz" an der Grenze zu Deutschland ist das Wasser dabei in jeder Hinsicht wegweisend. Nicht nur, weil Czastka erzählt, dass man hier auf ehemaligem Meeresboden stehe; nicht nur, weil einen das an Ingeborg Bachmanns berühmtes Gedicht "Böhmen liegt am Meer" denken lässt. Nein, das Meer ist in Tschechien wirklich sehr weit weg, aber die Elbe fließt ja auch schön breit dahin. Wer auf dem Elberadweg unterwegs ist, zwischen Děčín und Roudnice zum Beispiel, wird das Wasser jedenfalls nur selten aus den Augen verlieren. In seiner verwandelten Form als Wein oder Bier ist es ebenfalls ein Quell der Freude, und auch als Heilwasser wird ihm in Kurbädern wie Teplice seit Jahrhunderten eine besondere Kraft zugeschrieben.

Der Routenverlauf ist gut ausgeschildert. (Foto: Antje Weber)

Kein Wunder also, dass auf den tschechischen Streckenabschnitten des Elberadwegs der Tourismus stark zunimmt; Deutsche und Tschechen arbeiten grenzüberschreitend auch bei der Vermarktung immer enger zusammen. Und so ist auch eine Grenzstadt wie Děčín aufgewacht: "Vor fünf Jahren war die Stadt völlig unbekannt", sagt Czastka, inzwischen jedoch habe sich "viel geändert". Děčín präsentiert sich als "Stadt für aktive Menschen", mit Klettersteig, Paddel- und Radtouren. Bei einer "Adrenalin Challenge" beim Stadtfest spannte man kürzlich sogar eine Slackline quer über die Elbe, vom Kletterfelsen bis zum Schloss.

Überhaupt, dieses Schloss. Es lohnt der kleine Aufstieg zum barocken Garten bis hin zum Schlossgraben, in den ein liebevoller Gärtner ein grünes Herz gepflanzt hat. Dass man hier wie selbstverständlich herumspazieren und den Blick über die umliegenden Vulkanhügel schweifen lassen kann, ist "ein kleines Wunder", wie Czastka sagt. Denn eigentlich hatte sich hier 70 Jahre lang die Armee breitgemacht; nach der Wehrmacht stellten die Sowjets ihre Panzer unter dem Schloss ab. "Man kann sich nicht vorstellen, wie das in den Neunzigerjahren aussah: Es war eine Ruine", sagt Czastka. Heute gehört das Gelände der Stadt, wurde mit Unterstützung vom Staat und der EU renoviert und vor drei Jahren geöffnet.

Auf dem Schlosshügel verstehen Besucher des nicht überall idyllischen Hafen- und Universitätsstädtchens auch besser, dass Děčín einst ein Luftkurort war. "Vor hundert Jahren gab es Ausflugslokale auf jedem Hügel", sagt Czastka. Damals hieß Děčín noch Tetschen und war wie die ganze Region geprägt von den mehrheitlich sudetendeutschen Bewohnern. Bei deren Vertreibung nach dem Kriegsende 1945 wurden hier wie andernorts "90 Prozent der Bevölkerung ausgetauscht", das ist Czastka sehr bewusst. Aus anderen Regionen kamen nun Menschen, "die keine Beziehung zum Ort hatten". Und der Kommunismus, der kam auch.

Der in Děčín geborene Sven Czastka kann davon anhand seiner eigenen Familie erzählen. Sein Vater ist deutsch-böhmisch, die Mutter südmährisch; der Vater arbeitete zwar als Dolmetscher, sprach jedoch zu Hause kein deutsches Wort: "Deutsch zu sprechen, war nach dem Krieg verboten." Ihr Sohn mit dem für Tschechien doch sehr untypischen Vornamen Sven geht offen mit dem schwierigen Erbe um; wie viele andere seiner Generation will er es weder verdrängen noch umdeuten, sondern nimmt es als Teil der Geschichte an. Es sei nie der Ort schuld, sagt Czastka denn auch einmal, anhand eines anderen Beispiels: "Es ist nie der Ort, es sind immer die Menschen."

Es gibt bei der Weiterreise in Nordböhmen genug Gelegenheit, an diesen Satz zu denken. Immer dann, wenn einen die Gegensätze innerlich zu zerreißen drohen. Denn da ist zum einen diese liebliche Fluss- und Hügellandschaft, da sind bis ins Mittelalter zurückreichende entzückende Ortskerne. Doch im Untergrund lagert zum Teil ungeheuerliche Geschichte, und das kann man durchaus wörtlich nehmen.

Zum Beispiel in Litoměřice, am Zusammenfluss von Eger und Elbe auf einer Anhöhe gelegen - ein bezauberndes Städtchen, das Radfahrer keinesfalls unbesichtigt links liegen lassen sollten. In diesem Jahr feiert die Königs- und Bischofsstadt ihre Gründung vor 800 Jahren, mit einem Fest auf dem ungewöhnlich großen historischen Marktplatz, den gut restaurierte Häuser im Gotik- und Renaissancestil säumen. Eine zum Weinzentrum umgebaute Burg gibt es auch - und auf dem heutigen Rathaus einen bizarren Turm in Form eines Weinkelchs. Von dort oben hat man einen herrlichen Rundblick auf die umliegenden Hügel und die hier beginnende Ebene bis hin nach, ja, Theresienstadt.

Unter der Altstadt von Litoměřice, vormals Leitmeritz, gibt es ein bis ins Mittelalter zurückreichendes Geflecht von Gängen. (Foto: imago)

Die Nationalsozialisten, die in diesem traurig berühmten Nachbarort eine ganze Stadt zum jüdischen Ghetto machten, hinterließen auch im drei Kilometer entfernten Litoměřice, damals Leitmeritz, ihre Spuren. In einem bis ins Mittelalter zurückreichenden Geflecht von Gängen unter der Stadt kann man in einem Abschnitt mehr dazu erfahren: Denn ganz in der Nähe, in einem ehemaligen Bergwerk, errichteten die Nazis 1944 eine geheime Maschinenbaufabrik. Tausende Zwangsarbeiter aus dem damaligen KZ Leitmeritz und Häftlinge aus dem Gestapo-Gefängnis Theresienstadt stellten in den Stollen Panzermotoren her; eine für viele tödliche Arbeit.

Da stockt den Besuchern der Atem, schon bevor sie Terezín erreichen und dort im Ghetto-Museum und in der Kleinen Festung mehr über die bedrückende Entwicklung des einstigen Theresienstadt im 20. Jahrhundert erfahren. Inzwischen werden in Terezín jedoch auch weniger düstere Phasen der Vergangenheit beleuchtet. Seit 2015 gibt es hier ein Museum, das sich ganz der älteren Geschichte verschrieben hat: der Entstehung der Festungsanlage Theresienstadt in der Habsburgerzeit zwischen 1780 und 1790. "Niemand hat deren Geschichte bis heute erforscht", sagt der 36-jährige Historiker Jiří Hofman, der neben seiner Arbeit im Tourismusamt derzeit über die Festung promoviert.

Mit echtem Enthusiasmus führt er über deren alte Wälle und durch kilometerlange Gänge, die auch hier im Untergrund verlaufen. Und er gibt einige überraschende Antworten. Denn wie lebt es sich in einer Stadt, die heute beim Durchfahren fast menschenleer wirkt? "Super!", sagt Hofman. Die Stadt sei auch nicht etwa so leer, weil niemand hier wohnen wolle, sondern weil die Armee im Jahr 2000 abgezogen sei. Zuvor habe es hier 8000 Einwohner, 52 Gaststätten und elf Bordelle gegeben: "Es war ein kleines Prag." Aber auch heute lebe es sich gut in dem naturnahen, ruhigen Städtchen: "Es gibt hier viele Vögel, Schmetterlinge, bedrohte Tierarten."

So viel Entspanntheit ausgerechnet in Terezín wirkt etwas irritierend - doch sie zeigt einmal mehr, dass eine jüngere Generation in Tschechien einen neuen, eigenen Zugang zur Vergangenheit sucht. Nach so viel belastender Geschichte ist jetzt dringend eine Pause nötig, und bitte auch ein bisschen Alkohol. Den muss man in Tschechien nie lange suchen. Hervorragendes Bier - zu deftigen Gerichten mit enormen Knödeln gereicht - gibt es an jeder Ecke, dazu viele kleine Brauereien, die "Verkostungen" anbieten. Auch Weine der Region, insbesondere weiße, kann man in den mittelalterlichen Kellern eines Weinguts wie Velké Žernoseky bei Litoměřice probieren.

Und quält beim Radfahren irgendwann der Muskelkater, bietet sich ein Abstecher zu den Thermalquellen in Teplice an, dem einstigen Teplitz-Schönau. Gut lässt sich in diesem traditionsreichen Kurbad, mit prachtvollen Villen aus dem 19. Jahrhundert in hügelige Natur geschmiegt, auch an unverfänglichere Phasen der böhmischen Geschichte anknüpfen. Ganz reibungslos verlief die jedoch selten, wie man sich im Beethoven-Haus erzählen lassen kann: Einst trafen in Teplitz-Schönau - zu Habsburger-Zeiten von Kaisern und Königen ebenso gern besucht wie von Geistesgrößen - Beethoven und Goethe aufeinander. Es blieb bei dieser einen Begegnung, denn die beiden verstanden einander nicht. Schuld war wieder einmal nicht der Ort, es waren die Menschen.

© SZ vom 06.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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