Schweiz:Ein Bett am Berghang

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Kein Dach, keine Wände, aber eine tolle Aussicht: die Säntis-Suite auf fast 1000 Höhenmetern im Appenzellerland. (Foto: Rene Niederer Switzerland/Zero Real Estate)

Im Appenzell kann man im Hotelbett "Säntis Suite" auf einer Almwiese übernachten. Ohne Dach, ohne Wände - dafür mit Sternenblick und Getier.

Von Evelyn Pschak

Zwischen Pusteblumen, gelbem Sonnenhut, Disteln und Malven stehen zwei aneinandergeschobene Holzbetten, links und rechts zwei Nachttische mit altmodischen Lämpchen. Im Hintergrund verfangen sich watteweiche Wolken in den Appenzeller Alpen. Rundum ist nicht viel mehr als sattes Grün. Doch weil all das andere Getier, sobald es summt, manch einem schon zu viel Natur ist, wurde das eigens mitgebrachte Moskitonetz mithilfe einer alten Mistgabel und einem trockenen Ast übers Bett gespannt. So bekommen die hörbar irritierten Wespen nichts ab von der hausgemachten Marmelade und dem Bündner Schinken, den gerade ein weiß behandschuhter Butler im Frühstückskorb ans Bett gebracht hat.

Es ist früher Morgen an einem Sommersonntag. Die Sonne hat die Nacht vertrieben, in der man auf weichen Kissen den Himmel nach Kometen absuchte, darüber staunte, dass das Geläut der Tierherden gar nicht abebben wollte und sich an den Unterschied zwischen Flughunden und Fledermäusen zu erinnern versuchte, um die vom Waldrand aus hakenschlagenden Tiere näher zu bestimmen. Und während der man an Miguel de Cervantes dachte und an dessen Behauptung, der Weg sei immer besser als die schönste Herberge, aber der war ja auch Spanier, und das hier ist die Schweiz.

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Gegenüber dem Tal, am 2502 Meter hohen Säntis, dem höchsten Gipfel am Horizont, blitzt die Wetterstation auf. Der Berg gab dem Hotelbett unter freiem Himmel seinen Namen, und wer das Glück hat, hier eine Nacht zu verbringen, ist somit Bewohner der "Säntis-Suite", die vom angrenzenden Ausflugslokal Waldegg auf 986 Höhenmetern betrieben wird.

Sieben solcher wand- und dachlosen Suiten wurden in sechs Ostschweizer Tourismusdestinationen und dem Fürstentum Liechtenstein für die Sommermonate errichtet. Sie bieten wahlweise Aussicht aufs St. Galler Rheintal, die sieben Churfirsten, den Walensee - oder eben auf den Säntis. Entstanden sind sie aufgrund einer provokativen These der St. Galler Zwillingsbrüder Frank und Patrik Riklin: "Ein Hotelzimmer ohne Dach", so formulierten es die beiden Konzeptkünstler, "ist erfolgreicher als ein Hotelzimmer mit Dach." Man müsse also nur, so die Brüder, ungebuchte "kalte Betten" aus ihrem Interieur herausreißen - und sie würden mithin an Attraktivität gewinnen.

Butlerservice inklusive: Land- oder Gastwirte treten als Diener der Übernachtungsgäste auf. Weißes Hemd und schwarze Fliege sind Pflicht beim Servieren. (Foto: Rene Niederer Switzerland/Zero Real Estate)

Anarchisches Gedankengut für den Fortschritt der Hotellerie - das klingt zugegebenermaßen ungewöhnlich. Doch die Brüder sehen es als ihre Aufgabe an, Kunst dort zu platzieren, wo sie keiner erwartet, genauer: "An der Schnittstelle zwischen Kunst, Alltag und Ökonomie", wie Frank Riklin sagt.

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Auch die Unternehmung Zero Real Estate, über die man die sieben Outdoor-Betten buchen kann, entstand aus einer Kunstaktion: Das Null-Stern-Hotel der Riklins in einem Bunker sollte 2008 eigentlich die Sterne-Hotellerie kritisieren, wurde aber zu einem medialen Selbstläufer und korrelierte zudem mit der Finanzkrise und der daraus resultierenden generellen Infragestellung von ungebändigtem Luxus. 2016 entstand daraus im bündnerischen Safiental ein Null-Stern-Zimmer ohne Wände, für das die Zwillinge "konsequente Immobilienbefreiung" ausriefen.

Und in dem sich ihre eingangs als Provokation gemeinte Formel auch prompt bewahrheitete: Das "herausgerissene Hotelzimmer" erwies sich tatsächlich als Verkaufsschlager: 2020 wurde aus der künstlerischen Idee ein Franchise-Modell. Und wieder entsprechen ihre coronakonformen Hotelbetten dem Zeitgeist und der aktuellen Sehnsucht nach unbedenklichen Ferien: "Unsere Suiten werden täglich 24 Stunden gelüftet", wirbt witzelnd die Webseite.

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Damit aus den teilnehmenden Gastronomen oder Landwirten "Performer der künstlerischen Idee" werden dürfen, so Frank Riklin, müssen die Lizenznehmer Auflagen der Brüder erfüllen. Die Riklins verlangen nach Abgeschiedenheit - das Zimmer muss mitten in der Natur stehen. Oder nach einem nahen Schutzraum gegen die möglichen nächtlichen Regengüsse. Und sie lassen die Gastgeber als Butler auftreten, die für Komfort und Sicherheit der Gäste verantwortlich sind, weißes Hemd und schwarze Fliege tragen - den Willkommensdrink aber barfuß und in kurzen Arbeitshosen servieren.

In der Säntis-Suite trägt Chlaus Dörig die Butleruniform zu langen Hosen und schwarzen Sneakern. Der 68-Jährige hat das kleine Bergrestaurant seiner Eltern übernommen und daraus das "Erlebnis Waldegg" gemacht. Inzwischen ist es ein beliebtes Naherholungsziel im Appenzellerland, unter anderem samt Streicheltierzoo und Tante-Emma-Laden, in dem man Murmeltieröl und Appenzeller Whisky erstehen kann.

Es gibt im Baukomplex auch eine Alphütte, in der jede Woche frisch gekäst wird, eine Holzofenbäckerei mit eigener Kaffeeröstung und das Restaurant Schnuggebock, wo hinter Glas in einem Schaustall eine Muttersau ihre Ferkel säugt und in der Stube daneben auf glatt polierten Tischen Eierstichsuppe aus großen Kellen serviert wird. Hier hängt auch der Stammbaum der Dörigs und beweist die generationenübergreifende Anpassungsfähigkeit einer Familie, die seit 1846 aus Bergwirten besteht.

Für die Lizenz zur Säntis-Suite ließ Chlaus Dörig eigens ein Blockhaus auf der Almwiesenkuppe errichten, in das man bei Regen flüchten kann, und wo man eine kleine Espressomaschine, Taschenlampen, Feldstecher, Regenschirme, Handtücher und weiße Hotelslipper findet. Der Gastronom hat ein Dixiklo unter die große Buche am Waldrand gestellt und eine Wasserleitung zu einem Holztrog gelegt, in dem man zwar nicht duschen kann, aber Zähne putzen und die Füße baden. Und vor allem: wo man vom Trubel des nur 200 Meter entfernten Bergrestaurants, das an manchen Tagen 1000 Ausflügler besuchen, rein gar nichts mitbekommt.

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Nach dem Frühstück zuckelt Martin Fästler mit seinem vierspännigen Ochsenkarren an der Säntis-Suite vorbei. Der Landwirt ist Ochsentrainer, wahrscheinlich der einzige in der Schweiz, schmunzelt er, während er seine Gäste den Höhenweg entlang durch das Wäldchen hinterm Blockhaus chauffiert, wo sich immer wieder Richtung Norden Sichtschneisen bis zum südlichen Bodenseeufer öffnen. "Mein Training basiert auf Freiwilligkeit", sagt der Appenzeller: "Sie laufen oder sie laufen nicht."

"Vieles an unserem Projekt, sagt der Künstler Frank Riklin, "ist abhängig von Dingen, die man nicht selber steuern kann." Denn natürlich bleibt bis zuletzt die Ungewissheit, ob man nicht doch in strömendem Regen das Weite suchen muss. Der Gast weiß auch nicht um die Perseidendichte der Nacht. Ob die Moskitos Milde walten lassen, die schmale Mondsichel so silbern leuchtet, wie er es erwartet, oder sich samt Cassiopeia und Co. hinter Wolken verzieht. All das weiß man nicht, man kann nur hoffen. "Es ist ein modernes, kleines Märchen, das man erlebt", findet Frank Riklin. Und das ist es dann auch.

Übernachtung 295 Schweizer Franken (ca. 273 Euro) für zwei Personen, mit Frühstück, waldegg.ch, für 2020 sind keine Buchungen mehr möglich, Vormerkungen unter zerorealestate.ch

© SZ vom 10.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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