Mitten in Gotha:Das versteckte Welterbe

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Gotha, so meint man, ist ein Name, der für Errungenschaften steht, aber keine Stadt. Und selbst wenn man hier die ersten Schritte macht, findet man sich nicht gerade überrascht von ungeahnten Reizen.

Hilmar Klute

(SZ vom 12.02.2002) - Es hat in dieser Stadt einmal viele kluge Köpfe gegeben, und einer der klügsten war Professor Galletti. Der Mann hat eine dreibändige Geschichte der französischen Revolution geschrieben, die erste in deutscher Sprache. Aber er hat auch zum ersten Mal in der bewegten Historie Thüringens eine geographische Verortung seiner Heimatstadt vorgenommen, wie sie konziser nicht sein kann: "Gotha", so lehrte Galletti seine vermutlich chronisch glucksende Schülerschar, "Gotha ist nicht viel weiter von Erfurt entfernt, als Erfurt von Gotha."

Das Portal des Museums der Natur in Gotha. (Foto: dapd)

Die Gallettische Erdkunde ist auf den ersten Blick schwer widerlegbar. Und doch - wenn man mit dem Zug durch den westlichen Teil Thüringens fährt, kommt einem Gotha vergleichsweise entlegen vor. Weimar, das weiß man, glänzt seit ein paar Jahren im Nachschein der Deutschen Klassik - eine dezent und klug renovierte Kulturprovinzstadt, die für sich selbst steht. Eisenach prunkt mit der Wartburg, dem markanten Weltkulturerbe. Und Erfurt gehört mittlerweile ohnehin zu den hübschesten und kregelsten Städten in den neuen Bundesländern. Aber Gotha?

Man denkt im Vorbeifahren an Versicherungen. An den Adelskalender, den Almanac de Gotha. Vielleicht noch an das Schloss Friedenstein, das man schon auf Höhe Eisenach sehen kann.

Gotha, so meint man, ist ein Name, der für Errungenschaften steht, aber keine Stadt. Und selbst wenn man hier die ersten Schritte macht, findet man sich nicht gerade überrascht von ungeahnten Reizen.

Die Bahnhofstraße führt karg und gerad in Richtung Innenstadt, man ist froh, wenn sie hinter einem liegt. Obwohl es vermutlich in keiner Stadt dieser Größe eine derartige Ansammlung prunkvoller Bankenhäuser gegeben hat wie vor hundertfünfzig Jahren in der Gothaer Bahnhofstraße. Aber die Prachtbauten verfallen, ihre Fassaden sind blass und bröckelig. Villen und kleine Herrenhäuser überall - aber niemand investiert in deren Erhaltung.

Es ist ein bisschen tragisch, dass Gotha von Weltkulturerbestätten wie Weimar und Eisenach umsäumt ist, aber selbst mit seinen Schätzen nicht wuchern kann. Die Stadt, so hört man, möchte sich als "Einkaufstadt" empfehlen und Gotha wieder in den Ruf setzen, ein wichtiger Industriestandort zu sein. Aber die meisten Investoren siedeln sich eher in den Gewerbegebieten des Umlandes an. Viele junge Leute gehen weg, weil sie hier keine Zukunft sehen. Und wer nach Gotha reist, sucht nach den Spuren einer besseren Vergangenheit, die in den Museen und Archiven verwahrt sind. Aber kaum jemand ahnt, was da alles schlummert.

Der Schriftsteller Hanns Cibulka, 1920 in einem böhmischen Dorf geboren, schreibt in seinen "Thüringer Tagebüchern", "daß in Thüringen eigentlich alles vorhanden sei, was der Mensch zu seinem täglichen Leben braucht, Arbeit, Brot, soziale Sicherheit, doch die Lebensform sei eine andere, der Kontakt zwischen den Menschen immer etwas kühl, scharf abgegrenzt."

Es ist ein kalter Montagmorgen mit Schneeresten auf den Gehsteigen, und man geht etwas wackelig durch den niedrigen Torbogen, welcher in eine schmale Straße führt, die von niedrigen Mietshäusern und kleinen Villen gesäumt wird - ein unheitliches Architekturbild wie an vielen Stellen dieser Stadt.

Hanns Cibulka lebt hier mit seiner Frau Christa seit einigen Jahren in einer kleinen Wohnung. Ein Abgegrenzter gewissermaßen, der sich selbst auch in gewisser Distanz zu den Gothaern sieht. Obwohl er seit mehr als fünfzig Jahren in dieser Stadt lebt, davon lange Zeit als Leiter der Stadtbibliothek.

Cibulka war schon zu DDR-Zeiten ein gern gelesener, aber wenig gelittener Autor. Spätestens als er 1982 einen Roman über die Umweltsünden der Republik verfasste, fiel er in Ungnade. Aber Cibulka war immer ein Autor mit eingeschworener Lesergemeinde, und so konnte er im Windschatten Gothas überdauern. "Mein Verhältnis zu Gotha ist eher gespalten", sagt Cibulka, und das scheint umgekehrt genauso zu sein. Die Stadt sei offenbar an ihm und seinem Werk nicht besonders interessiert, denn er habe ja "nie etwas über Gotha" geschrieben. Und Christa Cibulka beklagt, dass es in Gotha keine Anstrengungen gibt, den Kulturgedanken zu forcieren. "Einzelne Leute entscheiden manchmal irgendwelche Dinge", sagt sie. Aber an sinnvollen Konzepten fehle es nach wie vor.

Ein Gang durch Gothas Altstadt beginnt am Fuß des Schlossbergs, wo das Denkmal für den liberalen Renaissance - Fürsten Ernst steht, den sie den Frommen nannten, weil er sich und seine Familie mit exzessiver Bibelexegese vor Machtmissbrauch schützen wollte.

Übrigens war Ernst der Fromme der erste Regent auf Schloss Friedenstein. Denn die Feste, die zuvor die Stadt dominierte, fiel einem eskalierten Streit zum Opfer. Weil Herzog Johann Friedrich von Sachsen sich weigerte, den brutalen Bischofsmörder Wilhelm von Grumbach auszuliefern. Von Grumbach hätte dem machtbewussten Herzog die Kurwürde wieder beschaffen sollen. Aber weil Grumbach den Bischof von Würzburg ermordet hatte, verhängt Kaiser Maximilian II. die Reichsexekution über Gotha. Er ließ die Stadt belagern, bis sich der Herzog ergab. Danach wurde die Festung - damals hieß sie noch Grimmenstein - gesprengt. Die Geächteten, Wilhelm von Grumbach war unter ihnen, wurden am 18. April 1567 auf dem Hauptmarkt gevierteilt - eine damals beliebte und von Schaulustigen gesäumte Hinrichtungsprozedur. Auch die Gattin des Malers Lukas Cranach war zum Hinschauen gezwungen, denn das Haus der Familie steht direkt am Hauptmarkt. Das historische Datum ist in eine Gedenkplatte gemeißelt.

Die zwei markanten Gebäude, die jetzt noch kommen, sind das schöne rostrot angestrichene Rathaus und die Augustinerkirche, in welcher Ernst der Fromme beigesetzt ist. Wo aber auch der fromme Professor Galletti ruht, der das Schicksal des fiesen Grumbach in einen einzigen Satz zu fassen verstand: "Sie kriegten den Grumbach her, rissen ihm das Herz aus dem Leibe, schlugen es ihm um den Kopf und ließen ihn laufen."

All die Jahrhunderte, die Gotha so berühmt gemacht haben, sind als architektonisches Patchwork im Stadtbild verewigt. Der Schmuck der Fassaden reicht vom Barock bis hin zum Klassischen, eine Mischung, welche die Altstadt verspielt wirken lässt.

In beinahe jedem Haus ist ein Geschäft, viel Einzelhandel auf engstem Raum. Eines der Kaufhäuser gehört zu den versteckten Schätzen der Stadt. Es ist ein Musterbeispiel der Bauhaus-Architektur im Alltag, ein schönes Gebäude aus den zwanziger Jahren mit Stockwerk-Terrassen, gebaut nach Plänen von Bruno Tamme. Das Geschäft in der Erfurter Straße gehörte einst dem jüdischen Kaufmann Conitzer, den die Nationalsozialisten enteignet haben. Nach der Wende übernahm der Kaufhauskonzern Joh das Haus.

Unbyllich, aber verliebt

Die engere Altstadt von Gotha abzuschreiten, ist aufschlussreich, aber nicht tagesfüllend. Man muss hochsteigen, um abzutauchen, zum Schloss hoch, um sich noch einmal vor Augen zu führen, was Gotha eigentlich so berühmt gemacht macht.

Einerseits sind das die schon erwähnten klugen Köpfe - Arnoldi, der bis 1827 die beiden Versicherungsbanken gegründet hat, welche Gotha zum Begriff für wichtige Errungenschaften des Sozialwesens gemacht haben. Er sitzt übrigens als spindeldürre Bronzefigur am nördlichen Ende der Altstadt mit entspannt übereinander gelegten Spinnenbeinen.

Justus Perthes, der die Kartographie erfunden und die erste Gesamtausgabe der Schriften Voltaires herausgegeben hat. Conrad Ekof, der als Vater der modernen Schauspielkunst gilt und dessen Rokokotheater im Schloss Welttheater und Talentbühne gleichermaßen war. Und natürlich die Vertreter jener Dynastie, die all die verborgenen Schätze gesammelt haben, die Gotha heute so ungeschickt versteckt hält.

Denn, so fragt man sich beim Rundgang durchs Schlossmuseum, warum muss eines der geheimnisvollsten und anmutigsten Gemälde der Vor-Dürerzeit in einem schlecht beleuchteten Kämmerchen hängen? Das "Gothaer Liebespaar", um 1485 enstanden, zeigt den Grafen Philipp von Hanau-Münzenberg mit seiner illegitimen, weil bürgerlichen Ehefrau Margarethe Weißkircher. Ein weißes flatterndes Schriftband erklärt, dass diese Verbindung "unbyllich" sei, aber die Liebe wiegt eben mehr als der Standesdünkel.

So schwerblütig diese spätmittelalterlichen Jahre gewesen sein müssen, so heiter und wissensdurstig und fortschrittlich war wohl die Zeit, in welcher Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha wirkte. Ernst regierte fast fünfzig Jahre und sorgte 1849 dafür, dass Thüringen eine weitreichende Landesverfassung erhielt, das Staatsgrundgesetz, welches neben dem Adel auch Vertretern des Bürgertums den Weg ins Parlament ebnete.

Aber Ernst liebte auch die Wissenschaften, insbesondere die Archäologie. Eine der beeindruckendsten Äyptischen Sammlungen des mittleren neunzehnten Jahrhunderts ist heute auf Schloss Friedenstein zu sehen. Darunter leibhaftige Wickelmumien, wie sie in aristokratischen Häusern seinerzeit höchst beliebt waren.

Mumienauswickeln muss ein eigenartiges Spiel gewesen sein. Da steht eine ausgewachsene Hofgesellschaft vor einem brettsteifen, kreuz und quer eingewickelten Körper, und alle freuen sich wie die Kinder auf die bunten Dinge, die dem Leichnam beigegeben sind, und die man gleich untereinander aufteilen kann. Solche Kindereien betrieb die Hofgesellschaft des Hohenzollern-Prinzen Friedrich-Karl.

Herzog Ernst war dagegen bemüht, seine Funde wissenschaftlich zu katalogisieren. Und so schlummert eine Sammlung im Schloss Friedenstein, die eigentlich weniger Aufschluss über das alte Ägypten erteilt, sondern Einblicke in das Kulturverständnis des neunzehnten Jahrhunderts gibt. Sehr gut aufbereitet wie auch alle übrigen Sammlungen und Museumsabteilungen des Schlosses - das Kartographische Museum, die Cranach-Sammlung, und natürlich die Forschungs- und Landesbibliothek mit mehr als 600.000 Bänden.

Ein Rokoko-Schatz

Einmal im Jahr schafft es Gotha, ein bisschen mit seinen Schätzen zu winken, die ja denen in Weimar in nichts nachstehen. Dann nämlich, wenn das Ekhof-Festival stattfindet, welches an den Schauspieler Conrad Ekhof erinnert - auch so eine bemerkenswerte Gestalt der Aufklärung.

Ekhof hat Gotha zur Sprungbühne für Bühnenschauspieler gemacht, August Wilhelm Iffland lernte in Gotha und Caroline Neuber trat hier auf. Ekhof hat dafür gesorgt, dass Schauspieler dann, wenn Glück, Glanz und Schönheit gewichen sind, nicht um Almosen betteln müssen, sondern Pensionen bekommen. Das Theatermuseum, auch schön tief im Schloss versteckt, zeigt eine Geschichte der Bühnenkultur und das kleine Rokokotheater ist ein richtiger Schatz.

Aber all dies weiß man ja nicht, wenn man an der Autobahn den Namen Gotha liest. Wenn man mit dem Zug an dieser Stadt vorbeifährt. Nicht einmal, wenn man sie durchschreitet, denn anders als in Weimar weisen hier nur wenige Tafeln oder Richtungspfeile zu den Stätten, die Gothas Bedeutung als Kulturstadt ausmachen. Gotha möchte mit seinen Kulturgütern auf der Welterbe-Liste der Unesco stehen. Aber dazu müsste die Stadt bewusster und auch selbstbewusster mit ihrem Erbe umgehen.

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