Kulturhauptstadt 2022:Herz aus Stahl

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Die Hochöfen von Belval in Esch-sur-Alzette sind das Wahrzeichen der Stadt. Sie können besichtigt werden, es gibt unter anderem eine Ausstellung zur Transformation von der Eisenindustrie hin zur heutigen "Stadt der Wissenschaft". (Foto: Claude Piscitelli)

Die luxemburgisch-französische Grenzregion rund um Esch-sur-Alzette ist EU-Kulturhauptstadt 2022. Die Relikte der Industrie-Vergangenheit werden dabei geschickt integriert.

Von Steve Przybilla, Esch-sur-Alzette

Eine leere Flasche Bier: Viel mehr ist von Luxemburgs mächtiger Stahl-Industrie nicht übrig. Die Flasche liegt in einer Eisenerz-Lore im Freilicht-Museum Fond-de-Gras, achtlos entsorgt und vergessen, wie die Geschichte der Region. "Unsere Industriekultur hat lange niemanden interessiert", sagt Frédéric Humbel, der Direktor des Museums. "Die meisten Menschen denken an die Finanzbranche, wenn es um Luxemburg geht. Dabei waren wir sehr lange eine Industrie-Region, genau wie das Ruhrgebiet."

In Fond-de-Gras ist das historische Erbe noch lebendig. Zwar wurden die 20 Stollen schon in den 1960er-Jahren geschlossen. Das dazugehörige Arbeiterdorf kann man aber heute noch besichtigen, mit Backstein-Gebäuden, Strom-Generatoren, einem Tante-Emma-Laden und einem voll funktionsfähigen Bahnhof. Im Sommer hält hier der "Train 1900", eine Dampflok, mit der früher Eisenerz abtransportiert wurde. Heute kümmern sich Ehrenamtliche um die Lokomotive. Befördert wird nun eine gänzlich andere, aber nicht weniger wertvolle Fracht: Touristen.

Die Hochöfen, Stahlfabriken und Minen werden mit Konzerten, Ausstellungen und Tanz neu belebt

Das Freilicht-Museum ist Teil von "Esch 2022", der Grenzregion zwischen Luxemburg und Frankreich, die die EU zur Kulturhauptstadt 2022 gekürt hat. Esch, benannt nach der zweitgrößten luxemburgischen Stadt Esch-sur-Alzette, will den Wandel vom Industrie-Moloch zum Kultur- und Wissensstandort feiern. Die alten Hochöfen, Stahlfabriken und Eisenerz-Minen sollen durch Konzerte, Ausstellungen und Tanz mit neuem Leben gefüllt werden.

Früher wurde Eisenerz transportiert, heute Touristen: der "Train 1900" in Fond-de-Gras. (Foto: Marc Lazzarini)

19 Gemeinden auf luxemburgischer und französischer Seite haben für das Kulturjahr ein gemeinsames Programm aufgelegt. In der Region, in der rund 200 000 Menschen aus 120 Nationen leben, will man die Vielfalt und den Wandel feiern - "Remix Culture" heißt das im Jargon der Planer. So bauen Mitarbeiter des Freilicht-Museums Fond-de-Gras derzeit einen alten Zug-Waggon in eine komfortable Ferienunterkunft um. Bis zu sechs Personen sollen hier einmal schlafen können, wenn das Kultur-Programm im kommenden Jahr anläuft.

Bis dahin hat Frédéric Humbel, der Museumsdirektor, noch viel zu tun. Als Kunsthistoriker arbeitet er seit 13 Jahren daran, Fond-de-Gras so realistisch wie möglich aufzubauen. Doch viele Informationen fehlen ihm bis heute. "Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen hier gearbeitet haben", räumt Humbel ein. Als die Bergwerke geschlossen wurden, habe man so ziemlich alles in die verbliebenen Hochöfen geworfen: Werkzeuge, Maschinen, Personalakten. Deshalb gönnt sich Humbel eine gewisse historische Freiheit: Der Krämerladen, der neben dem historischen Bahnhof aufgebaut wurde, stand eigentlich im Nachbardorf.

Die historische Dampflok wird von Ehrenamtlichen betrieben

Man könne bei der Rekonstruktion eben nicht hundertprozentig authentisch sein, beteuert Humbel. Er freut sich über jedes Artefakt, das sich in die Ausstellung integrieren lässt. "Manches wird aus anderen Orten gerettet", sagt der Historiker, "da fragen wir nicht lange nach. Uns geht es darum, den Zyklus der Eisenerz-Verarbeitung im Allgemeinen darzustellen." Um sich in die Vergangenheit hineinzuversetzen, empfiehlt er normalerweise eine Fahrt in der historischen Dampflok. Doch der "Train 1900" pausiert im Winter. "Da frieren die Weichen zu", sagt Hubel. "Außerdem müsste die alte Lok stundenlang angeheizt werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass das alles Ehrenamtliche machen."

Die Region lässt sich aber auch gut zu Fuß erkunden. Ein neuer Wanderweg verbindet alle luxemburgischen Gemeinden, die am Kulturjahr teilnehmen. Im Zentrum liegt das Naturschutzgebiet Ellergronn , das 2020 zum Unesco-Biosphären-Reservat ernannt wurde. Es ist ruhig hier. Ein paar Vögel zwitschern in den Bäumen, zwei Joggerinnen bringen mit ihren Laufschuhen den Schotterweg zum Knirschen. Ansonsten: Gras, viel Gras. Ein Teil des Tals existiert nur deshalb, weil der ehemalige Berg weggesprengt wurde - zum Abbau von Eisenerz, was sonst. Schon bald sollen Urlauberinnen und Urlauber in kleinen Hütten entlang der Wanderwege übernachten, auch dies ein Projekt von "Esch 2022". Die Bauarbeiten laufen noch.

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Ein paar Meter weiter taucht ein Bergwerk auf, die 1967 geschlossene Cockerill-Mine. Der Eingang ist mit einem massiven Gitter gesichert, Zutritt verboten. "Wir haben hier 1500 Kilometer Stollen", sagt Paul Ennesch, der Kassierer des dazugehörigen Museums. "Wenn wir wollten, könnten wir unterirdisch bis Nancy gehen. Aber die Einsturzgefahr ist viel zu groß. Außerdem wohnen Fledermäuse in den Stollen. Die wollen wir nicht stören." Wer unbedingt in ein altes Bergwerk einfahren möchte, muss doch wieder ins Freilichtmuseum Fond-de-Gras. Es ist einer der wenigen Orte in Luxemburg, an denen Züge in die unterirdischen Tunnelsysteme fahren.

So richtig greifbar wird der Wandel in Esch, wo im Industrieareal ein Wohn- und Universitätsviertel entsteht

In Ellergronn müssen historische Exponate genügen. Schon vor dem Museum stehen verrostete Loren, Radlader und Güterwagons. Schienen führen über den feuchten Waldboden, am Wegesrand ragen Lüftungsschächte in die Höhe. Paul Ennesch, der Kassierer, hat normalerweise nicht viele Gäste. Seit Esch zur Kulturhauptstadt ernannt wurde, kommen aber deutlich mehr, auch ins angeschlossene Restaurant. "Unsere Kläranlage ist auf maximal 35 Personen ausgerichtet", sagt Ennesch. "Wenn noch mehr kommen, müssten wir neu bauen." Noch klingt das eher wie Wunsch-Denken.

Alles Bestehende an Kultur einfach zusammenbringen, neu mischen, um Neues zu erstellen: eine ehemalige Industrieanlage im luxemburgischen Esch. (Foto: Harald Tittel/dpa)

So richtig greifbar wird der Strukturwandel erst in Esch selbst. Schon von Weitem ragen die Hochöfen in den Himmel, umringt von Einkaufszentren, Bibliotheken und einer großen Messe- und Konzerthalle, der "Rockhal". Seit Anfang der 2000er-Jahre läuft der Umbau des ehemaligen Industrie-Standorts zu einem Wohn-, Einkaufs- und Universitätsviertel. Schon jetzt sind über eine Milliarde Euro in das Projekt geflossen; fertig ist es noch nicht. Überall sind Kräne und Rohbauten zu sehen. Das Kulturjahr hat noch nicht einmal begonnen, schon klagen Einheimische, dass die Mieten steigen und Airbnb-Unterkünfte aus dem Boden schießen.

Auch in der Dunkelheit eignen sich die Hochöfen von Belval als Fotomotiv. (Foto: Claude Piscitelli)

Ein Spaziergang zwischen den alten und neuen Gebäuden lohnt sich. Überall Stahl, Beton und neu gestaltete Wasserspiele. Dazwischen Studierende, die sich mit einem Kaffeebecher auf einer Bank niedergelassen haben. Und immer öfter auch ausländische Besucherinnen, die mit ihren Handys fotografieren. In der Ferne steigt Rauch zwischen den Industrie-Gerippen auf: Eine Fabrik arbeitet noch, wenngleich sie keinen Stahl mehr produziert, sondern nur noch recycelt. Die meisten Einwohner arbeiten heute im boomenden Bausektor und in der öffentlichen Verwaltung. Auch die Universität, der Einzelhandel und der Gesundheitsbereich spielen eine wichtige Rolle.

In Esch schauen die Planer des anstehenden Kulturjahres derweil in die Zukunft. Rund 160 Projekte und Veranstaltungen sind in der luxemburgisch-französischen Grenzregion geplant, vom Techno-Rock-Orchester bis zum "Escape Room". Die alten Hochöfen stehen dabei im Zentrum. Den Auftakt macht ab dem 27. Februar die Ausstellung "Hacking Identity - Dancing Diversity" des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM). Dabei soll es um die Vielfalt Europas und multiple Identitäten gehen, örtlich eingebunden in die alte Stahlkonstruktion. "Dabei wird die Möllerei selbst zum Kunstwerk, ein vielfältig vibrierender Raum", heißt es im Programmheft.

Zum Auftakt des Kulturhauptstadtjahres im vergangenen Herbst traten Schauspieler des Escher Theaters (hier als Stahlarbeiter) in den Straßen auf. 2022 sind 160 Projekte und Veranstaltungen geplant. (Foto: Patrick Galbats)

Weitere Ausstellungen befassen sich mit Natur und nachhaltiger Entwicklung, mit der Erforschung Europas ("Pure Europe") und einer Welt im Wandel ("Ars Electronica"). Dabei sind auch Elektro-Konzerte in der benachbarten "Rockhal" geplant. Bei der immersiven Schau "Remixing Industrial Pasts" werden Besucherinnen und Besucher selbst ein Teil des Programms. Details verraten die Organisatoren noch nicht. Nur so viel: Es wird um die Geschichte der Region, um den Wandel, um Migration und individuelle Lebenswege gehen - kombiniert mit digitalen Techniken. Auch Hochseil-Tänzer sollen zwischen den alten Stahlgerippen auf ihre Kosten kommen.

Im Freilicht-Museum Fond-de-Gras steht das finale Programm pandemiebedingt noch nicht fest. Einen Wunsch hegt Museumsdirektor Frédéric Humbel aber jetzt schon: "Ich hoffe, dass viele Zeitzeugen kommen, die in den Bergwerken und Stahlhütten gearbeitet haben", sagt der Kunsthistoriker. Kürzlich sei ein 85-jähriger ehemaliger Messtechniker nach Fond-de-Gras gekommen, um sein Wissen an die jüngere Generation weiterzugeben. Für Humbel war das mehr wert als jeder Kulturtitel.

Informationen:

Anreise: Mit dem Zug geht es direkt bis zum Bahnhof Esch-sur-Alzette (von Deutschland aus mit Umstieg in Gare de Luxembourg). Alternativ per Auto. Parkhäuser gibt es rund um die Rockhal, 5 Av. du Rock'n'Roll.

Unterkunft: Das Ibis Esch Belval, 12 Rue du Rock'n'Roll, liegt direkt gegenüber der "Rockhal", DZ ab 71 Euro, www.accor.com

Museen: Das Museum der Cockerill-Mine, Rue Jean-Pierre Bausch, in Esch-sur-Alzette, hat montags bis freitags von 8 bis 12 und von 13 bis 17 Uhr geöffnet, am Wochenende von 8 bis 12 Uhr. Die Dampfzüge im Freilichtmuseum Fond-de-Gras, 2 Fond-de-Gras, fahren im Winter nicht. Führungen über das Gelände können aber individuell gebucht werden, Pauschalpreis 60 Euro für maximal elf Personen. Anreise am besten per Auto: www.minettpark.lu

Programm: Informationen zu allen Veranstaltungen unter: https://esch2022.lu

Kooperation: Esch-sur-Alzette teilt sich den Titel "Kulturhauptstadt 2022" mit den Städten Kaunas (Litauen) und Novi Sad (Serbien).

In Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, steht das Kulturhauptstadtjahr unter dem Motto "From temporary to contemporary". Mehr als 40 Festivals, 60 Ausstellungen und mehrere Hundert Kunst- und Konzertveranstaltungen sind geplant, unter anderem von und mit William Kentridge, Yoko Ono, Marina Abramović und Robert Wilson. Kernstück des Programms ist die Trilogie "Mythos von Kaunas" - eine an drei Wochenenden stattfindende Veranstaltungsreihe. Nähere Informationen zum Programm unter https://kaunas2022.eu

Die serbische Stadt Novi Sad war eigentlich schon 2021 europäische Kulturhauptstadt, wegen der Pandemie wurden die Veranstaltungen verschoben. "4 neue Brücken" lautet das Motto für das Kulturprogramm in der Stadt an der Donau. Zum Auftakt am 13. Januar gestaltet der slowenische Avantgarde-Künstler Dragan Zivadinov ein Open-Air-Spektakel mit dem Titel "Zeniteum". Nähere Informationen zum Programm: https://novisad2022.rs

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