Die Kaltfront war seit Tagen angekündigt, jetzt ist sie da. Der Himmel unwirklich stahlblau, das dunkle Meer wild und aufgepeitscht, als wolle es den Menschen mal wieder deutlich machen, wie klein sie in Wahrheit doch sind. Meterhoch branden die Wellen gegen die Mauern des Malecón. Ein paar Kinder machen sich einen Spaß daraus, sich von der Gischt nass spritzen zu lassen. Sonst steht alles still, kein Verkehr auf der Uferstraße, keine Musik, keine turtelnden Liebespaare auf der Mauer. Nur das Tosen des Ozeans.
Die "Frente frío" kommt wie immer von Norden. Wenn in Texas Schnee fällt, bekommen die Kubaner Schnupfen, heißt es. Doch so ein Temperatursturz ist in wenigen Tagen vorüber. In der politischen Großwetterlage zwischen den USA und ihrem kleinen Nachbarn herrscht nach wie vor Eiszeit. Vorbei der zarte Frühling, der sich mit Präsident Obamas Besuch in Havanna vor drei Jahren angedeutet hatte.
"Nervig, dieser Wind", klagt Milly Cabañas. Sie zieht ihren Schal über die Schultern und blickt fragend zum Horizont, als wollte sie sagen: Wann kommen wieder bessere Tage? Den Vorschlag, lieber auf ein Getränk in die Stadt zu gehen, nimmt die 50 Jahre alte ehemalige Lehrerin dankend an. Cabañas vermietet Zimmer im wohlhabenderen Viertel Vedado, sie findet selten Zeit für einen Stadtbummel. Aber heute hat sie sich freigenommen. Also Richtung Paseo del Prado, Havannas Prachtboulevard, der vom Meer zur Altstadt hinaufführt. Mit seinen barocken Fassaden, schmiedeeisernen Balkonen und dem Marmorboden strahlt der Prado noch immer den Charme aus, der einst die Ramblas in Barcelona prägte, bevor dort Fast Food und Kommerz einzogen. Familien schlendern in den Feierabend, Inlineskater drehen ihre waghalsigen Runden, ältere Damen lassen sich auf den Bänken zu einem Plausch nieder. Kunsthandwerker verkaufen ihre Waren.
Der Tourismus in Kuba boomt. Mehr als 4,6 Millionen Übernachtungen verzeichnete das Land 2017, dazu fast eine halbe Million Kreuzfahrttouristen. Eine Tui-Sprecherin sagt, Kuba sei aktuell die beliebteste Rundreisedestination deutscher Gäste. US-Amerikaner dürfen allerdings nur mit Sondergenehmigung - oder an Bord eines Kreuzfahrtschiffes - nach Kuba reisen. Obama hatte die Bestimmungen gelockert, ein paar Monate lang gab es sogar Direktflüge. Doch Donald Trump, kaum im Amt, drehte das Rad zurück - gerade hat er das seit 60 Jahren bestehende Wirtschaftsembargo sogar noch verschärft.
Und so bleibt erst einmal alles, wie es war. Aber gerade dafür lieben ja vor allem Europäer und Kanadier die Tropeninsel - weil sie so anders ist, so romantisch der Zeit entrückt. Reiseveranstalter werben mit dem "morbiden Charme Havannas" und der "fröhlichen Mentalität der Kubaner". Anbieter von Alternativreisen setzen eher auf die Bildung der Kubaner, organisieren Treffen mit Kaffeebauern oder Naturschützern. Der Revolutionsmythos zieht immer - man kann sogar eine Motorradtour mit einem Sohn von Che Guevara buchen. Ein sicheres Reiseland ist Kuba außerdem.
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Eines Tages aber werden sie kommen, die Amerikaner, in Massen, und sie werden viel Geld mitbringen. Für diese Zukunft wird jetzt gebaut. Der neue Staatschef Miguel Díaz Canel, seit einem Jahr im Amt, setzt ganz auf den Tourismus und folgt damit dem Kurs seines Vorgängers Raúl Castro. Im bislang unberührten Westen der Insel soll ein Golfresort entstehen, mit mehr als 1700 Bungalows und einem Yachthafen. Auch im Badeort Varadero mit seinen weißen Stränden, in der Weltkulturerbestadt Trinidad mit ihrer Kolonialarchitektur und anderswo im Land sind Luxushotels geplant. Das Kreuzfahrtterminal in Havanna soll erweitert werden, und am Prado entsteht gerade das dritte Fünfsternehotel der Stadt, zehn Stockwerke, 250 Zimmer. Der französische Accor-Konzern baut es mit dem kubanischen Staat.
Nur wenige Meter von der Baustelle entfernt türmt sich der Schutt eines zusammengefallenen Wohnhauses. Seit Jahren liegt es so da. Es scheint, als hätten sich die Bewohner der Stadt in stiller Verzweiflung an die Ruinen gewöhnt. "Denk nicht drüber nach, es macht dich nur verrückt", sagt Cabañas und steuert das Hotel Packard ein paar Blocks weiter an. Ebenfalls fünf Sterne, vor Kurzem vom spanischen Iberostar-Konzern eröffnet. Im gläsernen Lift geht es in die sechste Etage. Von der Bar am Pool reicht der Blick über die Hafeneinfahrt bis zur Festung El Morro auf der anderen Seite. Ein Kreuzfahrtschiff schiebt sich durchs Bild, da kommt der Kellner: Daiquirí, bitte.
Cabañas war noch nie im Ausland, eine Kreuzfahrt wird wohl ein ewiger Traum für sie bleiben. Ihre Brüder sind vor Jahrzehnten nach Miami geflohen und nie zurückgekehrt, wie Millionen andere Kubaner. Jene, die bleiben, schlagen sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Mal fehlen Eier, dann gibt es tagelang kein Brot, plötzlich ist überall die Zahnpasta aus. Und wehe, wenn der Kühlschrank kaputtgeht! Auch nach 60 Jahren Sozialismus leben die Menschen von Lebensmittelkarten. Jüngst musste gar Zucker importiert werden - der Stoff, der die Insel einmal reich gemacht hatte.
Touristen bekommen von all dem aber nichts mit. Die Privatvermieter decken sich auf dem Schwarzmarkt ein, und dass die Hotels versorgt sind, dafür sorgt das Militär. Jene Kubaner, die vom Tourismus leben, haben ein gutes Auskommen. Auch Cabañas hat es über die Jahre geschafft, mit ihren Einnahmen aus der Vermietung Stück für Stück die Wohnung zu renovieren. Sie ist ständig ausgebucht. Dass sich alle halbe Jahre die Steuerrichtlinien ändern, dass man sich als "Cuentapropista" (Privatunternehmer) tunlichst an die Regeln hält und nicht auffällt, das gehört zum sozialistischen Alltag.
In Viñales, dem Tabakstädtchen im Westen, oder in Trinidad kann man sehen, was möglich ist, wenn der Staat die Zügel ein wenig locker lässt: Weil fast jede Familie Zimmer vermietet, ist dort ein bescheidener Wohlstand eingezogen. Die Kubaner sind erfindungsreich, sie lernen von ihren Gästen, errichten hübsche Restaurants, organisieren Oldtimer-, Fahrrad- oder Pferdetouren.
In Havanna ist die Kluft zwischen Armen und Wohlhabenden nicht mehr zu übersehen. Rentner in Lumpen auf der einen Seite, Jungunternehmer mit Goldkette auf der anderen. "Wie heißt dieser Modedesigner, der mit den weißen Anzügen und schwarzen Sonnenbrillen?", fragt Cabañas, während der Aufzug wieder hinuntergleitet. Lagerfeld? "Ja genau, der war auch schon da. Hier, auf dem Prado, hat er eine Kollektion präsentiert." Chanels Cruise Collection vor morbider Kulisse.
Vor dem Nationaltheater stehen die auf Hochglanz polierten Oldtimer. An der Tür eines Buick, Baujahr 1948, lehnt der stolze Besitzer, ein grau melierter Mittvierziger. Viel Arbeit, so ein Auto, sagt er, "aber es lohnt sich". Die Ersatzteile bringen ihm Verwandte aus den USA mit, Stück für Stück im Koffer geschmuggelt. Früher war er Ingenieur und hat umgerechnet 20 Dollar im Monat verdient - als Touristenchauffeur macht er rund 100 Dollar Gewinn am Tag.
Sozialismus und Kapitalismus, Diktatur und Anarchie, Luxus und Ruinen, das alles geht unter der tropischen Sonne irgendwie zusammen. Seit Kurzem steht es sogar in der Verfassung des Landes: Sozialismus für immer, aber Privatbesitz ist erlaubt. Es gibt nun ganz offiziell Menschen, die mehr besitzen als andere. McDonald's und Apple gibt es immer noch nicht, dafür Gucci, Armani und Rolex. Sie haben sich in der Passage des Gran Hotel Manzana Kempinski niedergelassen, das in der Altstadt eröffnet hat. Eine Reminiszenz an vergangene Tage: Vor 100 Jahren war das Manzana de Gómez das erste mondäne Einkaufszentrum auf Kuba. Die historische Fassade blieb erhalten. Die Nacht im Hotel kostet 500 Dollar aufwärts, die Suiten 1400 Dollar. "Dafür müsste ein Kubaner zwei bis drei Jahre arbeiten - und nicht essen", sagt Cabañas und lacht.
Der Weg in die Calle Obispo, zur Eisdiele mit dem guten Kokoseis, ist wie ein Gang durch ein Freilichtmuseum - vorne alles herausgeputzt, dahinter Ruinen, in denen Menschen leben. Im Cocotaxi, einer der knallgelben Mofakutschen, geht es zurück nach Vedado. Der Sturm hat sich gelegt, die Straßenreinigung kommt. Drei Männer und eine Frau kehren die breiten Gehsteige sauber. Sie lachen, halten Schwätzchen, von Hektik keine Spur. Wozu auch - was morgen kommt, weiß keiner. Nur die Stürme von Norden, die sind gewiss.