Kirgisistan:Die Säulen des Himmels am Horizont

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Der Tian Shan mit seinen schneebedeckten Gipfeln überragt die Steppe von Arpa. (Foto: Patrick Escudero/hemis.fr/laif)

Hölzerne Moscheen, heiße Seen, 7000 Meter hohe Gipfel und einige Überraschungen: Unterwegs im wilden Kirgisistan, wo sich die Hirten mit ihren Herden zu verlieren scheinen.

Von Willi Winkler

Drei Tage und drei Nächte sind sie im Bus durchgefahren, ältere Ehepaare zumeist, die Frauen mit Kopftuch, die Männer ebenfalls stadtfein in einem viel zu engen Sonntagsstaat, verlegen jetzt beim Aussteigen, nicht unbedingt fromm, aber auf einer fröhlichen Wallfahrt in die unbekannte alte Heimat der Vorfahren.

In Karakol sind sie genauso Touristen wie die wenigen Reisenden aus dem Westen, besuchen wie sie die berühmte Moschee, die vor 100 Jahren im Dunganen-Stil errichtet worden ist, das Dach geschwungen wie eine Pagode. "Ohne einen einzigen Nagel!", erläutern die beiden jungen Frauen, die sie herumführen, aber ganz aus Holz und ganz anders als die staniolfarbenen Kuppeln der Neubauten, die in jedem Dorf stehen, bezahlt von den missionierenden Saudis. Allein in Kirgisistan sind in den vergangenen 25 Jahren 3000 neue Moscheen errichtet worden.

Die Besucher haben die gleiche bronzefarbene Haut, die gleichen Mandelaugen, die Goldzähne, die drahtigen Haare wie die Einheimischen, zu denen sie als Fremde kommen. Aber auch sie sind Kirgisen, nur von jenseits der Grenze, aus Xinjiang in China, neugierig auf das alte Land, wo jetzt nach Generationen die Grenzen wieder so durchlässig sind, wie sie es für ihre Vorfahren, die Nomaden, immer waren.

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Die ehemalige Sowjetrepublik Kirgisistan ist ein winziges Land in Zentralasien, umschlossen oder eingeschlossen von China, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan, wird aber von allen Seiten umworben. Neulich war sogar die Kanzlerin da, zog einen Anorak an und ließ sich mit dem kirgisischen Präsidenten vor Naturkulisse fotografieren. Die kirgisische Sprache ist mit dem Türkischen verwandt; die Türkei hat das Telefonnetz aufgebaut. Ganz wichtig ist ein gutes Verhältnis zu Russland; ein Achtel der fünfeinhalb Millionen Einwohner sind Russen. China expandiert und hat die nagelneue Autobahn, die bis in die Hauptstadt Bischkek führt, mit eigenen Arbeitern gebaut, weil das arme Land kein Geld hat. China hat dafür umso mehr und finanziert, wie hier gemunkelt wird, nicht nur die Infrastruktur, sondern auch die Luftangriffe, mit denen der bankrotte Putin in Syrien Weltmacht spielen kann.

Der Bus bringt die Kirgisen aus China hinauf ins Tal der Blumen, vorbei an manchmal schreiend bunten Plattenbauten, an neonbeleuchteten Tankstellen, an einem sonderscheußlichen Denkmal, das auf solider Aluminiumbasis an den Sieg erinnert, den die Großväter einst über Nazi-Deutschland errungen haben. Fürs Foto stellen sich die Enkel auf vor den "Sieben Bullen", die nach einer Sage einmal sieben Brüder waren, aber wegen ihrer Undankbarkeit verflucht und in Steine verwandelt wurden, immerhin in diese malerischen, tiefrot gezackten Sandsteinfelsen.

SZ-Karte (Foto: SZ-Grafik)

Viel weiter schafft es der chinesische Bus nicht, die Straßen werden unwegsam und zu steil, das Hochgebirge beginnt, das eigentliche Kirgisistan. In einem uralten Polo, bei dem das halbe D noch auf die Herkunft aus Deutschland verweist, erscheint der Adler-Vorführer. Der Adler bekommt eine Lederkappe aufgesetzt, die ihm die Sicht und die Scheu vor dem Fotografiertwerden nimmt. Bereitwillig breitet er seine Flügel aus und flattert fürs Bild. Bei der Demonstration seiner Jagdbegabung versagt er jedoch: Sein Herr trägt ihn auf den Hügel und gibt ihn oben frei, während die sechsjährige Tochter unten ein Kaninchen freisetzt. Majestätisch schwebt der Jäger herunter, der Hase schafft es mit wenigen Haken ins Gebüsch, der Adler verfängt sich darin mit seinen Schwingen. Damit das Gemetzel stattfinden kann, muss der Vorgang wiederholt werden, und diesmal wird der arme Hase wie vorgesehen vom scharfen Schnabel des Raubvogels zerhackt. Sein Herr lobt ihn gebührend, legt dann die traditionelle Kleidung ab und steigt in der Badehose in den See.

Wer das freundlichere Kirgisistan will, findet es am Gestade des Yssykköl, des "heißen Sees", auch jetzt noch, ein Vierteljahrhundert nach der Abspaltung von der Sowjetunion, ein bevorzugtes Urlaubsziel der Russen. Hier ist das Wasser blauer als an der Côte d'Azur, der Sand so fein wie in einem Südseefilm, und warm ist es auch. Dank einer meteorologischen Singularität friert der See auch im kältesten Winter nicht zu. Der unverwüstliche nationalistische Duma-Abgeordnete Wladimir Schirinowski hat sogar die Annexion des Sees gefordert, den Anschluss an Russland, als Ausgleich für all das Geld, das die alte Sowjetunion im armen Kirgisistan investiert habe. So beliebt ist dieser nach dem Titicacasee größte Gebirgssee der Welt, dass sich am Strand vor den blühenden Rosenhecken sogar der in Russland weltberühmte Sänger Dieter Bohlen geaalt haben soll.

Der Yssykköl ist die Belohnung für die vorangegangenen drei Tage im Nationalpark Chong Kemin. Die Wanderung ist nicht ganz anspruchslos, dreieinhalb bis fünf Stunden jeden Tag, aber das Gepäck reist bequem zu Pferd voraus und trifft abends rechtzeitig im Zeltlager ein, das die Reiter bereits aufgebaut haben. Der Weg führt über Trampelpfade, die von Halbnomaden und ihren Rindern stammen. Gelegentlich geht es auch venenstärkend durch das Schmelzwasser der eiskalten Bergbäche.

Mit einem Mal ist der ganze bunte Orient verschwunden, weit und breit lockt kein Basar, auf dem falscher Safran in dreizehn Farben Gelb angeboten wird, keiner zupft auf der dreisaitigen Komus landestypische Weisen, nirgends weint mehr ein Kamel. Dafür erstrecken sich Almen voller Edelweiß, ein Murmeltier pfeift vorschriftsmäßig, um die anderen zu warnen, die Wolken stauen sich an den Kämmen des westlichen Tian Shan, das neuerdings zum Welterbe erklärt worden ist. Über 7000 Meter ragen die Gipfel auf, die Säulen des Himmels über Zentralasien. Wenn jetzt auch noch Winter wäre, könnte sich der Schneeleopard zeigen, aber so dumm ist er nicht, dafür ist er viel zu selten und beschränkt seine Präsenz lieber auf die farbenfrohen Ölbilder, die sie von ihm unten in Bischkek verkaufen.

Kein Geier hat hier Lust, auf Aas zu hoffen

Es ist der unwahrscheinlichste Hintergrund: Spiegelglatt ruht der See Kol-Kogur, 2000 Meter hoch und zwischen Bergen eingezwängt, die Luft am Abend kalt, auch wenn Sommer ist, der Mond aufgegangen, die Sterne so hell wie nie gesehen. Die Reiter haben vorm Einsetzen der Dämmerung Sträucher ausgerupft und Äste gesammelt für das Lagerfeuer, das sie wärmen soll und mit all dem grünen Hartlaub den schönsten Funkenflug veranstaltet. Der Rauch legt sich, und fast 5000 Kilometer Luftlinie entfernt vom elsässischen Sessenheim, von dem Ort, an dem es vor fast 250 Jahren entstanden ist, singt der Kirgise Salamat Duischenbi das deutscheste aller deutschen Lieder, das Lied vom Knaben, der auf der Heide ein Röslein sah und es unbedingt brechen musste. Der Sänger hat es sich übers Internet beigebracht.

Salamat, der Wander-Guide, kündigt bestes Bergsteigerwetter für den nächsten Tag an, aber das Wetter überlegt es sich anders. Die freundlichen Kumulus-Wolken vom Tag zuvor verdichten sich, es wird kalt, Regen droht. Weiter geht der Weg im stetigen Bergauf. Die Baumgrenze liegt schon zurück, die Gräser werden gröber, bis gar nichts mehr wächst. Zum Pass hinauf sind es nur noch wenige Serpentinen, steingrau und abweisend alles; kein Geier hat hier Lust, auf Aas zu hoffen.

Noch eine Viertelstunde höher ist der Pass erreicht, 3100 Meter. Für Gipfelstolz ist aber keine Gelegenheit, denn im gleichen Moment bricht ein hochgebirgstaugliches Gewitter los, vor dem es im Geröll keinen Schutz gibt, nur Ducken und Hoffen, dass es einen nicht erwischt. Der Wettersturz verdunkelt den Mittag, bleich und lang ziehen die Blitze über den Kamm, wo schlagen sie ein? Es ist aber nur der Hagel, der prasselnd und hämmernd niedergeht und sofort alles weiß zudeckt.

Mit dem Abstieg vom Pass verbessert sich das Wetter, die harten Hagelkörner schmelzen in Pfützen, der stramme Wind fegt den Boden trocken und fordert dringend eine neue Schicht Sonnencreme mit mindestens Faktor 25. Auf dem langen Weg ins Tal endlich ein von Hunden bewachtes Bauernhaus, die Rückkehr in die Zivilisation. An einem Nagel hängt ein im Westen längst ausgestorbenes Transistorradio. Eine Frau kommt heraus, staunt kurz über die bleichgesichtigen Fremden und bringt frisches Brot und eine Schüssel Rahm. Der Tee wird mit den getrockneten Kuhfladen gekocht, die ihr Mann in einem Jutesack hereinträgt.

Was weiter westlich nur Nomadenkitsch ist, Tschingis Aitmatows berühmte Liebesgeschichte "Dshamilja", könnte sich hier, in der Heimat des Autors, noch immer mit Himmelsmacht ereignen: dass sich die bisher so gehorsame Tochter in einen Fremden verliebt und Haus und Hof und Familie verlässt, um ihm nachzufolgen und - was denn sonst? - draußen in der Welt unglücklich zu werden.

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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