Erlebnisse als Touristenführer:"Wir Berliner sind keine Deko"

Christian Seltmann führte Urlauber durch Berlin und hat über seine Erlebnisse ein Buch geschrieben: Einige kuriose Einblicke in den Alltag mit Touristen.

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(Foto: dpa)

Christian Seltmann, vom Sauerländer zum Berliner geworden, hat sich vier Jahre lang als Touristen-Guide durchgeschlagen (lesen Sie hier das Interview "Warum ist kein Graffiti auf der Ostseite der Mauer?"). In seinem Buch "Where the Fuck is the Führer" (Ullstein) plaudert er über den kuriosen Alltag bei Touren durch die Hauptstadt. Auf den folgenden Seiten finden Sie einige Auszüge aus dem Buch - und erfahren, warum man auf Berliner nicht mit dem Finger zeigen soll. "Die meistgestellten Fragen auf meinen englischsprachigen Touren: 1. Where did the Führer live? 2. Where was his palace? 3. Where did Eva Braun live? 4. Where was the Führer buried? 5. Is there a monument? Für die Amis ist es selbstverständlich, dass eine derart bekannte Figur der Geschichte riesenhafte Paläste, Denkmäler und Plätze hinterlassen haben muss. Sie vergessen, dass Hitler nur zwölf Jahre an der Macht war, und die zweite Hälfte der Adolf'schen Legislaturperiode war unglücklicherweise von einem Krieg geprägt (...) Unterm Strich ist also von Deutschlands Adolf nicht mehr viel zu sehen. Die Einzigen, die das bedauern, sind die NPD sowie jede Menge Touristen aus englischsprachigen Ländern. (....) Was sie immer sehen wollen, ist der Parkplatz: die Stelle, wo Hitler und Eva Braun verbrannt wurden. 'No! Not alive!' muss ich manchmal hinzufügen, ebenso wie 'Not by Stalin!'" Im Bild: Regenbogen über dem Reichstag

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"Gehen Sie schnell - viel schneller als zu Hause! Seien Sie zielstrebig. In der U-Bahn gilt: Reingehen, hinsetzen. Nur Touristen betreten eine U-Bahn, eine Kneipe oder einen Hinterhof und bleiben danach erst mal stehen, um sich zu orientieren. Der Berliner weiß, dass hinter ihm noch zwanzig andere hereinwollen, und macht schnell den Eingang frei. Nur Touristen halten den Verkehr auf. Überlegen Sie sich also vorher, wo Sie hingehen. Wenn Sie sich nicht so schnell orientieren können, dann treten Sie zur Seite, stellen Sie sich mit dem Rücken zur Wand und gucken erst dann in der Gegend rum. Solange Sie in Berlin nicht im Weg herumstehen und gaffen, werden Sie die Berliner von einer ganz neuen Seite kennenlernen - als nett und zuvorkommend. Kaum zu glauben, aber wahr." Im Bild: Spaziergang entlang der Spree

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"Trinkgeld geben nur die deutschen Stämme, die südlicher als Frankfurt wohnen. Schweizer sind am besten, wobei deren Großzügigkeit sicher schlagartig enden würde, würde man sie als deutschen Stamm bezeichnen. Bei Schweizern muss ich nicht mal meinen Spruch auspacken. Denn mein Bakschisch-Spruch geht so: 'Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen. Wenn nicht, dann schreiben Sie Ihre Kommentare auf einen Fünf-Euro-Schein. Ich geb ihn dann meinem Chef.' Der Spruch ist saublöd und auch nicht von mir, sondern von Joan, einer Amerikanerin, promoviert in Stadtplanung. Die hat ihn wiederum von Olivia. Joan sagte mir: 'Der Spruch ist saublöd. Aber er wirkt.' Recht hat sie - bei allen südlich des Mains. (...) Seit ich Guide bin, gebe ich immer Trinkgeld." Im Bild: in der Reichtstagskuppel

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"In den Augen vieler Outdoorjackenkunden, die ich geführt habe, sehe ich oft dieses totale Flimmern. Sie glauben nicht, dass man hier leben kann. Ihnen fehlt das Überschaubare, Greifbare, Haltbare. Ihnen fehlt die Provinz. (...) Ich bin wie sie. Wie meine Gäste - nämlich aus der Provinz. Da kann ich noch so großstädtisch tun. Sie wissen das nicht, denn sie denken, ich sei ein total authentischer Großstadtmensch. Sie halten mich für eine Art Crocodile Dundee der Metropole." Im Bild: Berliner Fernsehturm spiegelt in der Spree

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"Wir bleiben nicht an der Siegessäule stehen, denn das Ding sieht zwar gut aus, aber es ist höllisch schwer zu erklären, wofür es steht und warum es gebaut wurde. Das ergäbe ein historisches Proseminar mit ungefähr folgendem Titel: Die erzwungene Reichseinigung. Bismarck und die fingierten Konflikte zwischen Dänemark und den Staaten des Deutschen Bundes um Schleswig. Mentalitätswandel und Pragmatismuspolitik. Ich hab das ein Mal gemacht, und es war der gähnende Horror." Im Bild: Dunkle Wolken hängen über der Siegessäule.

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"Eigentlich ist es ein Wunder, das jemand in seinem Urlaub Geld bezahlt, um sich belehren zu lassen, und sich dazu einem wildfremden Menschen anvertraut, mit dem er fast einen ganzen Tag verbringt. Bei den amerikanischen, australischen und spanischen Touren ist das kein sonderliches Problem, weil Amerikaner, Australier und Spanier nun einmal viel kommunikativer sind als Deutsche. Was das bedeutet? Ein Amerikaner, der sich auf eine Tour einlässt, kann davon ausgehen, dass er ein Standardprodukt mit einem berufsgutgelaunten 'You folks will have a great day'-Guide erhält. Ausreißer, Klugscheißer und Nörgler wie bei den deutschen Guides sind im Weltbild des amerikanischen Touristen nicht vorgesehen. Amis wollen nämlich geführt werden. Sie wollen eine Eins-a-Serienanfertigung, eine Tour wie einen Starbucks-Kaffee: groß, lecker, freundlich überreicht. Dafür nehmen sie auch einen hohen Preis in Kauf. So benehmen sich die amerikanischen Guides auch: Sobald man sie vor eine Gruppe stellt, knipsen sie ihr privates Ich aus und ihr professionelles an. Wer denkt, die Figuren in US-Serien wirken aufgesetzt, dem sei gesagt: Die amerikanischen Guides sind alle so." Im Bild: die Türme der Oberbaumbrücke

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(Foto: dpa)

"Oder die Leute sind einfach nervig, wenn sie vergessen, dass wir (wir Berliner) in dieser Stadt leben. Dass wir nicht dafür da sind, nur die Straßen zu füllen wie bei einem Filmdreh, sondern dass wir hier wirklich unser Leben über die Bühne bringen. Auch wenn sie es sich nicht vorstellen können. 'Sind wir eigentlich alle Statisten in eurem Urlaub?', möchte ich manchmal schreien, wenn ich die Touristen sehe, wie sie in ein Café kommen oder sogar auf der Straße auf uns mit Fingern zeigen wie auf Tiere im Zoo. (...) Wir Berliner sind keine Deko. Und wir kriegen allesamt von der Tourismus- und Marketing-Gesellschaft des Senats kein Honorar. Wir fahren ja auch nicht nach Bad Lippspringe, suchen uns eine Eigenheimsiedlung, laufen durch die Vorgärten und schreien: 'Da! Guck mal, den Pflanzkübel hab ich hier in der Siedlung schon viermal gesehen.'" Im Bild: Touristen am Checkpoint Charlie

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"Jeder Guide hat Angst vor irgendetwas anderem. Manche haben Angst davor, dass das Boot, auf dem sie schippern, sinkt. Manche haben Angst davor, dass der Doppeldeckerbus, in dem sie fremde Leute durch die Stadt begleiten, in der Kurve umkippt. Manche haben Angst vor Fahrradreifenpannen. Manche haben Angst davor, von den echten Berlinern, den sogenannten Urberlinern, blöd angemacht zu werden. Manche haben Angst, dass einer merkt, dass sie keinen Hochschulabschluss haben. Manche haben Angst, dass ihnen was zwischen den Zähnen hängt. Manche haben Angst davor, ihren Job zu verlieren. Ich habe Angst vor Lehrern. (...) Zum Glück nehmen Lehrer meist nur in Begleitung von Schulklassen an Touren teil. Kämen sie allein, ich würde zittern. Privat nehmen Lehrer eher selten an Touren teil. Wahrscheinlich können sie ihre Eifersucht nicht zähmen auf den, der da an ihrer Stelle das kluge Wort führt." Im Bild: Eine Frau spiegelt sich in einer Scheibe, während sie am Brandenburger Tor in Berlin vorbeiradelt.

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"Ende Juni, Anfang Juli kann man nicht mehr davon sprechen, dass die Linden duften. Nein, sie stinken gefährlich nach Katzenpisse. Tag und Nacht sondern sie ihren Saft ab, der wie klebriger Schweiß auf die Straße, die Autos, die Scheiben und den Lack tropft. Touristen kennen das nicht und wundern sich, dass es aus wolkenlosem Himmel regnet. Eines solchen Julimorgens radelt eine Handvoll Mädels hinter mir her (...) Wo Linden stehen, klebt es. Wo keine Linden stehen, ist wenig Schatten. Dieser Licht-Schatten-Wechsel erschwert es mir, mit der Rotte von 18-jährigen Mädchen zu Rande zu kommen. (Es sind auch ein paar Jungs dabei, aber die haben nichts zu melden.) Manche der Gören wollen unbedingt in der Sonne stehen, wenn wir pausieren, manche auf gar - keinen - Fall! Dazwischen gibt es keine Meinung. Halbschatten? Nie gehört. Stelle ich die Mädels in den Schatten, fröstelt mindestens die Hälfte von ihnen. Stelle ich sie in die Sonne, schwitzen sie wie Schweinebraten und fühlen sich auch so." Im Bild: Bäume der Straße Unter den Linden beim Festival of Lights

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"Als zweckmäßig hat sich erwiesen, diesen älteren Jahrgängen zu verordnen, dass sie etwas entscheiden müssen. Und zwar aus heiterem Himmel. Dann werden sie plötzlich ganz klein mit Hut. Auch hierbei gibt es zu beachten, dass das Ganze so vorgetragen wird, dass jeder Widerspruch im Keim erstickt wird. Ungefähr so: 'An dieser Stelle der Tour entscheiden die Tour-Teilnehmer über den weiteren Verlauf. Jetzt gleich Mittagsessen oder erst noch das Jüdische Waisenhaus in der Großen Hamburger Straße ansehen? Das liegt ganz bei Ihnen.' Daraufhin breitet sich meist große Ratlosigkeit, Verwirrung, Bestürzung im Auditorium aus. Psychologisch gesehen ist das einfach: Man zwingt die Leute aus ihrer Deckung. Irgendeiner muss jetzt etwas sagen. Aber wer? Entweder es opfert sich einer, oder ich sage schließlich: 'Na gut, dann entscheide das eben ich.' Und alle Männer sind peinlich berührt, weil sie sich nicht getraut haben. So bleibt man der Führer. Ganz einfach." Im Bild: Die Sonne geht hinter dem Fernsehturm und dem Ostbahnhof unter.

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