Stadtführer beackern ein weites Feld, gerade in Hamburg: Die elegante Hafencity, der widerspenstige Charme St. Paulis, die Stadtvillen in Blankenese, alte Modellsiedlungen wie Steilshoop, der Hafen, die lasterhafte Reeperbahn - das alles und noch viel mehr ist Hamburg. Die Hansestadt fordert die kreative Vielfalt der Stadtführer regelrecht heraus. Ist ihre Unabhängigkeit deshalb nicht ein Wert an sich? Ein Symbol für die demokratische Meinungsgesellschaft? Christina Linger stimmt zu: "Es wäre nicht gut, wenn es zu stark reglementiert würde." Sie kennt Orte, in denen die Stadt reinregiert ins Programm der Stadtführer. Und mancher greift dankbar nach der Chance, die Nischen der Stadt zur Bühne einer späten Berufung zu machen.
Jörg Beleites steht auf der Treppe des Paulsenhauses ans Geländer gelehnt. Mit seinem Teleskop-Zeigestab sieht er aus wie ein Dirigent, der von seinem Pult aus ein Orchester führt. In Wirklichkeit will er der kleinen Reisegruppe, die zu ihm aufschaut, nur was erzählen über die Foyers der Kontorhäuser, die Hamburger Unternehmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Innenstadt erbauen ließen. Beleites, 76, gebürtiger Hamburger, ist ein Treppenhausspezialist. Er hat sich selbst dazu gemacht, weil er nach seiner Zeit als Mathematik- und Physiklehrer am Charlotte-Paulsen-Gymnasium in Wandsbek nicht in einen tatenlosen Ruhestand treten wollte. In den Fünfzigerjahren hat er mit seinem Großvater schon ab und zu Spaziergänge durch die Bürogebäude der City gemacht. Er mochte die vornehme Architektur der Treppenhäuser, die mit ihren gefliesten Wänden und raffinierten Geländern den Wohlstand der Bauherren inszenierten, aber auch deren Gespür für Stil und Zweckmäßigkeit zeigten.
Stadtbilderklärer - so nennt sich Jörg Beleites. Er war Lehrer, heute führt er durch Hamburgs Treppenhäuser.
(Foto: Privat)Später hat er im Rahmen von Lehrerverbandstagungen Führungen gemacht. Und als er frei war vom Schuldienst, begann er allmählich, sich zum Stadtführer umzuschulen. Genauer gesagt zum "Stadtbilderklärer", wie Beleites sagt.
In Bibliotheken hat er sein Wissen gesammelt und während eines Kontaktstudiums an der Universität Hamburg bei dem Kunsthistoriker Hermann Hipp. Vor allem bei Hipp hat Beleites gelernt, wie man ein Haus betrachtet, und nun lenkt er also schon seit 14 Jahren die Blicke auf die übersehenen Details des Hamburger Alltags. Auf Treppenläufe, Antrittspfosten, Paternoster, Wandmosaike, Bodenfliesen - auf die ganze gediegene Pracht jener Foyers also, die wie ein Spiegel des hanseatischen Selbstverständnisses wirken: Die teure Architektur soll hier nie mit zu viel Prunk vom nüchternen Geschäftsinteresse ablenken. "Die Kunden sollten aus den Eingangsbereichen schließen: Wenn mein Kaufmann sich ein Büro in so einem Haus leisten kann, bin ich bestimmt gut bei ihm aufgehoben", erklärt Beleites.
Jörg Beleites hat einen Anstecker an der Jacke, auf dem sein Name neben einem Hamburg-Wappen steht. "Das ist nicht das Hamburg-Wappen", korrigiert er freundlich, "das ist das Hamburg-Symbol." Es zeigt auch eine weiße Burg auf rotem Schild, nur in etwas schlichterer Zeichnung, und anders als das Wappen darf das Symbol jeder tragen. "Es sieht schön offiziell aus", sagt Beleites und lächelt. Er möchte eine Stimme seiner Stadt sein. Aber er möchte frei sein von amtlichen Pflichten.
Die Zertifikate der Verbände hat er nicht erworben. "Nachdem ich in meinem Leben genügend Prüfungen gemacht und auch abgenommen habe, wollte ich darauf verzichten." Er weiß, dass er genug weiß, um seine Kundschaft richtig zu informieren. "Als Bestätigung kommt dazu, dass ich immer wieder nachgefragt werde."
Von der Nachdenklichkeit der Kollegin Linger ist Jörg Beleites weit entfernt. Es reicht ihm, seinen Lehrerberuf in aller Ruhe auf eine neue Ebene gehoben zu haben - und dabei als freier Wissensmensch auch mal über die Grenzen seiner Heimatstadt blicken zu können. Seine Tochter hat ihn mal dazu gebracht, an ihrem Wohnort für die Schulklasse des Enkels als Stadtbilderklärer auszuhelfen. Das war was! Beleites lacht. Seine Tochter lebt in München.