Altes Handwerk:Der Bayerische Wald und sein gläsernes Herz

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Mehr als 1000 Grad ist die Glasschmelze heiß, wenn sie zur Bearbeitung aus dem Ofen genommen wird. (Foto: Freiherr von Poschinger Glasmanufaktur)

Ein geheimnisvoller Werkstoff, klar und undurchsichtig zugleich: Eine Reise auf den Spuren der Glasmacher und in einen Wald, in dem aus Altem wieder Neues wachsen darf.

Von Eva Dignös

Manchmal buddelt ein Maulwurf alte Scherben nach oben. Grün schimmert das Glas in der Sonne. Waldglas. Es heißt nicht nur wegen seiner Farbe so, sondern auch wegen seiner Herkunft. Schon seit Jahrhunderten wird es in den weiten Wäldern des Bayerischen Waldes hergestellt. Es hat diese Region geprägt, genauso wie der Wald, in dem alles anfing, manches endete und vieles neu beginnt.

Im 14. Jahrhundert entstanden die ersten Glashütten im Bayerischen Wald. Es war ja fast alles da, was gebraucht wurde: Holz, um die Öfen zu heizen, um Pottasche und Glasformen herzustellen. Und Quarz, der wichtigste Rohstoff für die Glasproduktion. Eine mächtige Quarzader durchzieht die Region, 150 Kilometer lang, von der Oberpfalz bis nach Österreich. Bei Viechtach im Landkreis Regen ist das harte Mineral besonders gut sichtbar, ein Wanderweg führt den "Großen Pfahl" entlang, eine hellgraue, zerfurchte Rippe, die aus der grünen Umgebung herausragt.

Bei Viechtach ist die Quarzader, die Ostbayern durchzieht, gut sichtbar. Der Sage nach ist der "Große Pfahl" der gezackte Rücken eines Drachen. (Foto: Eva Dignös)

Der Quarzfelsen ist eine Station auf der Glasstraße, die seit 1997 die Glasorte in Ostbayern verbindet. 250 Kilometer ist die Ferienstraße lang, auf verschiedenen Routen führt sie von Waldsassen im Norden bis Passau im Süden, immer auf der Spur eines Werkstoffs, dessen Struktur die Wissenschaft bis heute nicht endgültig enträtselt hat, ein geheimnisvoller Zustand zwischen fest und flüssig, der entsteht, wenn glühend rote Schmelze aus Quarzsand, Pottasche und Kalk abkühlt.

"Glas kann man nie ganz durchschauen", sagt Magdalena Paukner, und so paradox das klingen mag, kann man doch davon ausgehen, dass sie weiß, wovon sie spricht. Die Glaskünstlerin aus dem Dorf Lindberg bei Zwiesel gehört zu einer Generation junger Glasmacher, die eine jahrhundertealte Handwerkstradition neu zu interpretieren versuchen und dadurch am Leben halten. Denn wirtschaftlich hat die Glasindustrie seit Jahrzehnten zu kämpfen. Vor allem die automatisierte Produktion suchte sich neue Standorte. Glas wurde zur billigen Massenware. In den 70er Jahren hatte die Glasindustrie in Niederbayern noch 8000 Mitarbeiter. Mittlerweile sind es weniger als 2000, erst 2018 wurde wieder ein Betrieb geschlossen, noch einmal 80 Arbeitsplätze weniger im Ort Frauenau, der sich selbst als das "gläserne Herz" des Bayerischen Waldes bezeichnet.

Nun könnte man den Niedergang einer stolzen und traditionsreichen Branche beklagen, könnte ihr vielleicht noch ein Museum widmen und ihr ansonsten beim langsamen Sterben zuschauen. Das Museum gibt es tatsächlich in Frauenau. Das "Staatliche Museum zur Geschichte der Glaskultur", wie es mit vollem Namen heißt, ist ein moderner, runder Bau mit - natürlich - großflächiger Glasfassade. Vor dem Museumsgebäude erstrecken sich die Gläsernen Gärten, ein Skulpturenpark mit mehr als 30 Kunstwerken. Auch Magdalena Paukner, die junge Glaskünstlerin aus Lindberg, ist vertreten mit ihrem "Urkraut", drei mehr als zwei Meter hohen Stängeln aus Glas, die sich am Ufer eines Bachs zwischen Bäumen und Sträuchern in die Höhe recken.

Glaskünstlerin Magdalena Paukner mit einem ihrer Werke - inspiriert vom Grün ihres Gartens. (Foto: Eva Dignös)

Wer sie in ihrem Atelier besucht, der bekommt eine Ahnung davon, dass die Glastradition des Bayerischen Waldes eben doch nicht nur ein Fall fürs Museum ist, dass das Vergangene den Nährboden bietet für etwas Neues. Filigrane Ketten, Ohrringe und Armbänder fertigt die 34-Jährige in ihrer Werkstatt in einem kleinen Dachzimmer. Wie Mistelzweige oder Heidelbeeren, Libellen oder Bienen sehen die Schmuckstücke aus. Mit schnellen, zupackenden Bewegungen formt sie vor dem Gasbrenner winzige Blätter und Blüten, Körper und Flügel: Glasmachen ist nichts für Zauderer, zu schnell erkaltet das heiße Glas und verliert seine Formbarkeit. Einige Jahre arbeitete sie bei einem Glaskünstler in Nürnberg, dann zog sie zurück, in ein Häuschen am Waldrand, mit Hühnern, Gänsen, Truthähnen und Frau Wichtig, der hinkenden Henne, die eine Fuchs-Attacke überlebt hat.

Auch Reinhard Schmid kehrte zurück in den Bayerischen Wald, auch so ein Glasmensch, wie schon sein Vater: Rudolf Schmid errichtete in Rauhbühl bei Viechtach die Gläserne Scheune, ein privates Museum mit mehr als 200 Quadratmeter bemaltem Glas an den Wänden, gezeichnete Geschichten, Sagen und Mythen aus dem Bayerischen Wald, das ganze Gebäude ein Gesamtkunstwerk, über Jahrzehnte immer wieder erweitert und beliebte Station auf der Glasstraße. Sohn Reinhard lernte bei seinem Vater das Glasmalen. Über die Jahre entwickelte er seine eigene Technik aus Bleistiftzeichnung und Aquarellmalerei hinter Glas, realistisch die Malweise, surreal die Motive. Nach Jahren in den USA "musste ich mich irgendwann zwischen New York und Viechtach entscheiden und da ist es eben Viechtach geworden", sagt er. Und wie er da sitzt und erzählt, bei Kaffee und Kuchen in dem wie ein großes Wohnzimmer eingerichteten "Café Venus" in Viechtach, das er zusammen mit seine Frau Karin betreibt, da klingt das durchaus schlüssig.

Denn es hat sich viel verändert in dieser Region, die lange Zeit das Etikett "strukturschwach" trug. Schlechte Verkehrsanbindung, wenig Jobs. Und dann noch die langen Winter. Heute sind viele längst froh, dass es etwas entspannter zugeht, passend zu diesem sanft geschwungenen grau-blauen Hügelmeer, das die Erosion übrig gelassen hat von einem Millionen Jahre alten Hochgebirge und das viele als Wanderziel schätzen - aber nicht so viele, dass ganze Täler zugeparkt werden und die Gipfelstürmer Schlange stehen. Strukturschwach ist der Bayerische Wald schon lange nicht mehr, die Arbeitslosenquote liegt um zwei Prozent. Und in die 8500-Einwohner-Stadt Viechtach holt Reinhard Schmid Kunstausstellungen, die vorher in Paris zu sehen waren.

Dass Tourismus und Handwerk voneinander profitieren können, erkannte man beim Glashersteller Joska in Bodenmais, Weltmarktführer für gläserne Pokale, schon früh, lange vor Eröffnung der Glasstraße, und öffnete die Türen der Glashütte. Früher undenkbar, war das Rezept für das perfekte Glas doch streng geheim. Aus einem kleinen Werksverkauf auf Bierbänken wurde ein "Glasparadies" auf 70 000 Quadratmetern, mit Verkaufshallen, Schau-Werkstätten und Glaskugeln zum Selberblasen.

Glasmacher bei der Arbeit: Das glühende Material wird in Handarbeit in Form gebracht. (Foto: Eva Dignös)

Auch in der Glasmanufaktur der Freiherren von Poschinger in Frauenau können Besucher den Glasmachern bei der Arbeit zuschauen, auch dort hat man sich erfolgreich eine Nische gesucht: Seit 2001 produzieren die Mitarbeiter hauptsächlich Sonderanfertigungen und Einzelstücke, vom Ersatz für einen zerbrochenen historischen Lampenschirm im Opernhaus von Bayreuth bis zur Kleinserie an Trinkgläsern mit integriertem Magneten für die Minibar einer Luxusyacht. Mehr als 1000 Grad heiß und bis zu 20 Kilo schwer ist das glühende Stück Glasschmelze, das sie aus einem der vier feuerfesten Tontöpfe im Ofen in der Mitte der Werkshalle holen. An der langen Pfeife bläht es sich auf zu einem leuchtenden Ballon, der in einer Holzform seine endgültige Gestalt erhält. Schnell muss es gehen, bei einer Temperatur unter 500 Grad schließt sich das Zeitfenster für die Verarbeitung wieder. "Es ist ein unendlich Kreuz, Glas zu machen" steht als Inschrift hoch oben an der Wand der Halle, ein Spruch aus der Zeit der Waldglashütten. Schon im Jahr 1568 wird die erste Poschinger-Glashütte erwähnt, seitdem ist das Unternehmen in Familienbesitz, ebenso wie ausgedehnte Wälder, in denen früher die Hütten angesiedelt waren.

Wer in Ostbayern dem Glas folgt, der kommt am Wald einfach nicht vorbei, nicht nur weil dort die Glastradition ihren Ursprung hatte. Zusammen mit dem Böhmerwald auf der anderen Seite der Grenze zu Tschechien bildet der Bayerische Wald das größte zusammenhängende Waldgebiet Mitteleuropas. Mehr als 24 000 Hektar zwischen Bayerisch Eisenstein im Norden und Mauth im Süden dürfen ganz besonders wild wachsen: Der Nationalpark Bayerischer Wald war das erste Schutzgebiet dieser Art in Deutschland. Am 7. Oktober 1970 wurde er eröffnet, im nächsten Jahr wird er 50 Jahre alt. 350 Kilometer markierte Wanderwege gibt es, Aussichtsgipfel und Bergseen und natürlich Wald, unendlich viel Wald.

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Ein Wald, in den der Mensch nicht eingreift: Diese Idee passt gut in Zeiten, in denen viele gern nachhaltiger unterwegs wären, und war doch noch vor wenigen Jahren hoch umstritten. Anfang der 90er Jahre hatten mehrere Stürme tiefe Schneisen in die Wälder geschlagen. Im toten Holz vermehrten sich die Buchdrucker, eine Unterart des Borkenkäfers. Die Insekten brachten selbst gesunde Fichten zum Absterben. Vor allem zwischen Rachel und Lusen, den beiden höchsten Bergen des Nationalparks, kommt der Wanderer an unzähligen kahlen grauen Stämmen vorbei.

"Viele hatten Angst, dass nie wieder etwas wächst, wenn man nichts gegen den Borkenkäfer tut. Und dass die Urlauber nicht mehr kommen, wenn sie nur noch tote Bäume sehen", sagt Max Kufner, der als Ranger im Nationalpark arbeitet. Beide Befürchtungen haben sich nicht erfüllt. Zwischen den toten Stämmen wachsen längst wieder junge Bäume und verwandeln die Fichten-Monokulturen in einen gesünderen Mischwald. Und die Urlauber kommen auch. Mehr als 300 000 informierten sich im vergangenen Jahr in den beiden modernen Nationalparkzentren in Neuschönau und Ludwigsthal.

Abgestorbene Stämme sind Lebensraum für Tiere und Pflanzen. (Foto: Eva Dignös)

70 Prozent der Nationalparkfläche sind Naturzonen, in die der Mensch nicht eingreift, bis zum Jahr 2027 sollen es 75 Prozent sein. Dass vor allem in den Randbereichen vom Borkenkäfer befallene Bäume gefällt und abtransportiert werden dürfen, ist ein Zugeständnis an die Besitzer der angrenzenden Waldstücke. Manchmal führt Max Kufner einige von ihnen durch den Nationalpark. Sie lästerten dann gerne über diesen unaufgeräumten Wald, in dem gebrochene Stämme kreuz und quer am Boden liegen, erzählt er. "Aber wenn ich sie dann frage, ob in ihren ordentlichen Wäldern auch so viel junges Grün aus dem Boden sprießt, dann werden sie ganz leise." Kufner kennt beide Seiten. Er hat in der Forstwirtschaft gearbeitet, hat im Akkord Bäume gefällt, bevor er im Nationalpark anheuerte. Gelernt hat er übrigens Glasmacher: Das Glas und der Wald - sie finden immer wieder zusammen.

Der Nationalpark ist Schutzraum für Auerhuhn, Fischotter oder Habichtskauz, auch Luchse sind wieder heimisch. Noch wichtiger für das Waldleben aber sind dessen unscheinbare Bewohner, die Insekten, die im toten Holz leben, die Pilze, die mit den Bäumen einen regen Nährstoffaustausch betreiben. Manche brauchen den toten Wald, um zu überleben. Der seltene Duftende Feuerschwamm zum Beispiel, ein heller Flaum am Stamm, den Pilzkenner schon aus der Ferne erschnuppern. Ein Hauch von Rose und Flieder liegt dann in der Luft.

Die ältesten Bäume stehen im Urwaldgebiet Mittelsteighütte. Schon seit dem 18. Jahrhundert ist dort kaum mehr Waldwirtschaft betrieben worden. Einige der Rotbuchen, Weißtannen und Fichten sind mehrere Hundert Jahre alt. Viel totes Holz liegt neben dem Wanderweg am Boden. Nationalpark-Ranger Max Kufner zeigt auf einen mächtigen Stamm am Boden. Er zerfällt, die Oberfläche ist vermoost - und zwei winzige grüne Triebe recken sich nach oben. Aus Altem wächst Neues, das gilt für den Wald ebenso wie fürs Glas.

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