Die Fußspuren im Matsch könnten seine Anwesenheit verraten, und deshalb schaut Fritz Süß in jede nicht allzu tiefe Pfütze. Ist aber nur Reh, das sich dort festgetreten hat. Und meistens Mensch. Es ist ja nun auch schon zwölf Jahre her, seit ein Jäger auf den Höhenbrunner Wiesen, nahe am Klosterfilz, dieses Tier gesehen hat, das er zunächst nicht zuordnen konnte. Zu groß und zu grau für ein Rind, zu wuchtig für eine Hirschkuh. "Mit einem Elch hatte er nicht gerechnet", sagt Süß, der Waldführer ist und gleich ums Eck aus Riedlhütte stammt. Man hört nicht heraus, ob er selbst damals schon mit der Ankunft des Elches gerechnet hätte. Heute jedenfalls tut er es. Der Klosterfilz, jenes weitläufige Moor zu Fuße von Reichenberg im Bayerischen Wald, in dem Fritz Süß seine Kindheitssommer verbracht hat, der Filz ist für ihn Elcherwartungsland.
Die Bedingungen zumindest würden passen. Genug Futter, und zwar solches, das "der Elch", wie er hier nur heißt, gerne frisst: Weide, Birke, Pappel, Espe - "Weichlaubhölzer". Der Elch müsste sich nur reinstellen in den weichen, bemoosten Boden, wo der Mensch, will er ein paar späte Heidelbeeren pflücken, gleich zum Erschrecken tief einsinkt. Der Elch aber hat zwischen seinen paarigen Hufen Hautlappen, die ihn behende durchs Moor stapfen lassen. Wenn er etwas tiefer steht, kommt ihm das beim Fressen sogar zugute; sein Hals ist so kurz, dass ihm auf ebener Fläche das Weiden nicht leicht fällt. Ein im Sumpf stehender Elch aber hat das Laub direkt in Fresshöhe. Paradiesisch. Nur: Warum ist er dann nicht da?
Nun, sie wissen es nicht wirklich. Selbst Fritz Süß kann es nicht sagen, und der beschäftigt sich nun schon seit Jahren aus Leidenschaft mit den Elchen. Seit gut zwei Jahrzehnten wurde immer mal wieder das eine oder andere Tier im Bayerischen Wald gesehen. Herübergewandert sind sie wohl aus Tschechien; dort lebt, in der Nähe des Moldaustausees im Nationalpark Šumava, eine kleine Population. Bislang aber ist keines der Tiere geblieben. Dabei wäre der Elch als Zuwanderer sogar einigermaßen willkommen, willkommener jedenfalls als der Wolf.
Der Elch ist zwar groß und hungrig, aber eben kein Fleischfresser. Er wird weder von den umliegenden Bauern noch von den Gästen als Bedrohung empfunden. Beim Wolf ist das anders, man kann das gerade wieder mal beobachten. Unbekannte hatten in der Nacht auf den 6. Oktober im Norden des Nationalparks eines der beiden Tiergehege geöffnet, in denen die Parkverwaltung Wölfe hält. Man will im Park den Besuchern ja möglichst viele einheimische Tiere zeigen, weshalb hier Braunbären im Gehege gehalten werden, Rothirsche natürlich, Otter, Marder, Biber, Käuze, Hasel- und Auerhuhn, Luchs und Uhu. Aber auch Wisente und Auerochsen, die es früher in der Region gab. Der Elch war 2012 der letzte Neuzugang im Gehege - ein Heimkehrer nun, zuvor Opfer der Jagd. Es liegt Jahrhunderte zurück, dass Elche in Deutschland beheimatet waren. Der vorerst letzte deutsche Elch soll 1746 in Sachsen erlegt worden sein, so steht es im "Elchplan" der bayerischen Staatsregierung.
Ansiedlungsversuche in den 1930er- und 1960er-Jahren in der Schorfheide in Brandenburg, auf dem Darß und an der Müritz schlugen fehlt. Der Elch ist eine Diva. Das wissen auch seine Pfleger im Nationalpark, die ihre vier Tiere täglich mit Unmengen an frischem Grün, Luzerne-Heu und aus England importierten Elchfutter-Pellets versorgen und gerade dabei sind, einen Laub-Vorrat für den Winter anzulegen. Ohne das richtige Futter, sagt Tierpfleger Tobias Rankl, werden die Tiere in Gefangenschaft nicht alt. Mögen sie noch so robust aussehen und sich auch so verhalten. Zu Fuß geht Rankl nicht ins Gehege. Elche, die sich bedroht fühlen, treten mit den Vorderbeinen nach dem vermeintlichen Angreifer - und sie haben starke Beine.
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Gruben und Marterln: Die Angst vor dem Wolf hat im Wald Spuren hinterlassen
Den entlaufenen Wölfen ist die Freiheit schlecht bekommen. Ein Tier hat gleich am ersten Abend der Zug erfasst. Zwei wurden mittlerweile abgeschossen, ein weiteres ging in eine Lebendfalle und ist jetzt - stark abgemagert - zurück im Gehege. Die Nationalparkverwaltung hatte den Abschussbefehl damit begründet, dass Wölfe, die ihr Leben lang gefüttert wurden, die natürliche Scheu vor dem Menschen verloren haben: Man wolle verhindern, dass die Tiere dieses Verhalten an ihre wilden Artgenossen weitergeben. In den Nationalpark ist ja nicht nur der Luchs zurückgekehrt, sondern auch der Wolf. In diesem Jahr hat ein Rudel drei Jungtiere bekommen, die Verwaltung, sagt ein Sprecher, freue sich über diese "ersten in Bayern geborenen Wölfe seit 150 Jahren".
Die Angst vor dem Wolf hat über die Jahrhunderte auch im Wald Spuren hinterlassen. Geht man vom Klosterfilz Richtung Höhenbrunner Wiesen, kommt man an einer Stelle vorbei, an der sich einst eine Wolfsgrube befand; angelockt wurden die Tiere mit quakenden Enten, die - geschützt - in einem Tontopf saßen. Unweit steht ein Marterl, aufgestellt von jemandem, der dankbar war, eine Wolfs-Begegnung unbeschadet überstanden zu haben. Im Mittelalter und noch darüber hinaus war der Wolf ja tatsächlich ein Konkurrent im alltäglichen Überlebenskampf. Und der war hart im Bayerischen Wald mit seinen strengen, langen Wintern. Es wuchs wenig mehr als Gerste, Kartoffeln, Kohl; man hielt Hasen fürs Fleisch und Ziegen für die Milch. Die Glasherstellung war lange der wichtigste Wirtschaftsfaktor, und schon vor dem elften Jahrhundert suchten Goldwäscher entlang der Bäche unterhalb von Rachel und Lusen ihr Glück.
Geht man heute dort mit Roland Ertl, einem der Nationalpark-Ranger, auf Wanderschaft, führt er einen durchs Grübenfeld. Die Grüben oder "Seifenhügel" sind Abraumhalden der Goldsucher. Am Schachtenbach geht es entlang, ein gewaltiger Baum hat sich übers Wasser gelegt, mittlerweile ist er in mehrere Teile zerfallen und modert vor sich hin. Genau das ist es, was Ertl auf seiner Tour "Chaos und Verhau" zeigen will: Wie hier aus dem alten Wald ein neuer, ganz anderer entsteht.
Es geht tatsächlich über Stock und Stein, überall, wo Ertl hinführt, liegt totes Holz am Boden, das bei genauerer Betrachtung so tot nicht ist. Moose, Pilze, junge Fichten wachsen auf den umgestürzten Bäumen. Der Fichtenporling, der Zunderpilz, sogar den Duftenden Feuerschwamm haben sie im Nationalpark, eine extrem seltene Art, von der weltweit nur eine Handvoll Standorte bekannt sind, weil der Pilz bevorzugt auf Bäumen siedelt, die mehrere Hundert Jahre alt geworden, dann abgestorben und schon ein paar Jahrzehnte auf dem Boden gelegen sind.
Dass sie solche Bäume hier haben und es solch eine weite Wildnis inmitten Deutschland überhaupt gibt, darauf, sagt Roland Ertl, "sind wir stolz". Dass abgestorbene Bäume nicht entfernt werden, war lange heftig umstritten. Mitte der 1980er-Jahre fegten Sommerstürme durch die Wälder, die damals noch Fichtenwälder waren. "Hoch und dunkel", erinnert sich Ertl. Die Bäume kränkelten da schon: der saure Regen, ein paar zu warme Sommer. Und dann kam der Borkenkäfer.
Weite Gebiete des Bayerischen Waldes sahen in den 1990er-Jahren so aus, wie man es aus Kriegsfilmen kennt. Bäume ohne Rinde, Stümpfe ohne Krone. Attraktiv war dieser Wald nicht. Dennoch forstete man nicht auf, ließ dem Käfer und der Natur ihren Lauf, zumindest im Kerngebiet des Parks. Und jetzt, 30 Jahre später, ist Erntezeit. "Jetzt haben wir etwas vorzuzeigen", sagt Roland Ertl.
Denn der Wald, er hat sich gewandelt. Überall kommt junges Holz hoch, vielerorts sei der Waldboden heute "so dicht besiedelt wie nie." Wobei das Nie sich auf den Zeitraum seit Beginn der Messungen 1991 bezieht. Die toten Stämme bieten Käuzen, Spechten, Fledermäusen Nahrung und Nistplätze. Auerhühner zieht es im Winter in die Nähe umgestürzter Bäume, weil sie aus dem aufragenden Wurzelgeflecht Steine picken, die sie zur Verdauung benötigen. "In einem bewirtschafteten Wald gibt es solche Wurzelteller nicht", sagt Ertl. Dort werden die Stämme abgeschnitten, der Teller klappt zurück, da bleibt kein Stein für den Auerhahn. Es ist eben ein anderer Wald jetzt, auch, weil die Temperaturen steigen. Mehr Laubbäume, mehr Buschwerk, mehr Elch-Futter.
Und trotzdem ist von den Wanderelchen keiner länger geblieben. Manche sind wohl weitergezogen. Sicher belegt ist nur das Schicksal derer, die nicht überlebt haben. Der Elch von den Höhenbrunner Wiesen zog weiter in die Oberpfalz. Hier hat ein anderer Jäger ihn unerlaubt, aber wohl nicht ganz versehentlich geschossen. Anderen wurde ihr Verlangen nach Salz zum Verhängnis.
Im Sommer decken sie ihren Bedarf über Wasserpflanzen, im Winter suchen sie Salz entlang der Straßen. Davon gibt es zwar nicht so viele im und am Park, aber auf denen haben es die einheimischen Pendler oft sehr eilig. Und der Elch ist kein Reh - er springt, wenn ein Auto kommt, nicht davon, er bleibt stehen. "Er nimmt es ja auch mit Bären und Wölfen auf. Er weiß um seine Stärke", sagt Fritz Süß. Nur hilft ihm das in dem Fall nichts.