Zukunft der EU:Etwas Schärfe könnte nicht schaden

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François Hollande ist mit so viel ideologischem Rüstzeug in die Wahlkampf-Schlacht gezogen, dass Angela Merkel ganz mulmig wurde. Als Präsident dürfte er an der Seite der Kanzlerin schnell zum Konsensfachmann reifen. Trotzdem sollte sich der Franzose einen Funken seiner Streitlust erhalten. Es ist diese Leidenschaft, die Menschen für Politik brennen lässt.

Stefan Kornelius

Die Aufnahme in die Runde der europäischen Staats- und Regierungschefs macht gelassen. Wer dabei ist unter den Präsidenten, Kanzlern und Premiers, der ist drinnen, der hat es geschafft, der kann hinabschauen auf die kleingeistige Opposition und die Kritiker zu Hause. Hier wird er verteilt, der nahrhafte Kuchen der Macht. Ohne eine wirklich starke Konkurrenz im europäischen Kräftegefüge stehen die Regierungschefs über Parlamenten und Parteien. Sie haben die EU-Kommission zurückgelassen als ein ausführendes Organ. Sie sind unter sich. Das macht den Europäischen Rat so einzigartig - und auch so berechenbar.

Kann François Hollande der Europapolitik seinen Stempel aufdrücken? (Foto: AFP)

Denn nichts würde die Macht des Rates schneller zerstören als Streit und Rückschritt. Nichts würde den Nimbus mehr beschädigen als Gezänk und Ideologie. Als Staatsfrau und Staatsmann steht man über den Ideologen. Deswegen reagierte der Rat auch so perplex, als die Wahlkämpfe in Griechenland und Frankreich roh und derb die unangenehmen Alternativen in der Europapolitik benannten, als Nationalismus und Populismus kredenzt wurden zur Lösung aller Probleme: Griechenland raus aus dem Euro oder weiterhin drinnen; Geld ausgeben oder sparen; Steuern hoch für die Superreichen oder Steuern runter; "wir sind nicht irgendwer, wir sind Frankreich" gegen den deutschen Gulliver.

Europa ist so kompliziert geworden, dass es die Antworten auf diese Fragen nicht alleine seinen Bürgern überlassen kann. Aber wer entscheidet dann für Europa? Das unfertige Institutionen-Gerüst in Brüssel etwa? Würde es besser funktionieren, dann genösse es auch mehr Vertrauen. Ungelöst sind die wirklich zentralen Fragen nach der demokratischen Legitimation, nach Aufsicht und Kontrolle - allesamt Beweisstücke für die Unfertigkeit des Kontinents.

Auch die nationalen Institutionen sind zu schwach, um die Last des gesamten Europa zu tragen. Der Nationalstaat ist zu eng geworden für dieses Europa, das mit seinen Geschäften längst von den Kräften der Globalisierung abhängt, das seine Bedeutung im Konzert der Weltmächte nur als Einheit zur Geltung bringen kann.

Seit mindestens einer Dekade kämpft Europa mit dieser Globalisierung, hat den Euro als erste, unfertige Antwort darauf kreiert und den Vertrag von Lissabon als halbherziges Zusatzprotokoll. Wirklich versöhnt hat sich der Kontinent nicht mit diesen Kräften von Aufstieg und Niedergang, mit dem freien Handel, mit vagabundierendem Kapital und der allverfügbaren Information. Deswegen ist die Versuchung immer wieder groß, die Zwangsjacke der Nation überzustreifen und die Sehnsucht nach der alten Heimeligkeit zu befriedigen.

Amtseinführung des neuen französischen Präsidenten
:Adieu Nicolas - Bienvenu François

François Hollande ist Frankeichs neues Staatsoberhaupt. Mit einem Appell an seine Landsleute zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung hat der neue Präsident sein Amt angetreten. Umgehend will der Sozialist mit seinen Reformen loslegen. Schon in den ersten Wochen soll an der Spitze des Staates einiges anders werden.

in Bildern.

Es bleibt also das Konsensgremium an Europas Spitze, der Europäische Rat mit den Staats- und Regierungschefs. Es mag funktionieren als Steuergremium. Hier gelten die ungeschriebenen Regeln von Rücksicht, Maß und Mitte. Aber wie steht es mit Stabilität und demokratischer Berechenbarkeit? Auch nicht viel besser - wie die Krücken-Konstruktion des Fiskalpakts zeigt. Sie will zwar alle Souveränitäten respektieren (auf dass Irlands Volk ja nicht nein sagt im Referendum), aber sie will auch Europa mehr Macht zuschieben.

Ist Europas Konsenskraft also aufgebraucht? Braucht der Kontinent Alternativen, Konfrontationen, mehr Ideologie? Als François Hollande mit all seinem sozialistischen Schlachtenrepertoire in den Wahlkampf zog, da wurde es nicht nur der Kanzlerin ganz mulmig. Sollte die Krise jetzt zu einer Auseinandersetzung um den rechten politischen Glauben werden? Waren sie wieder zurück, die Kameraden aus der ideologischen Klamottenkiste: Sozialisten und Neoliberale, Etatisten und Umverteiler?

Deutschland sieht sich gerne als postideologische Gesellschaft. Manche reden gar von einer postpolitischen Gesellschaft, einer Technokraten-Elite, die nur an den richtigen Schrauben drehen muss, damit der Staatsapparat schnurrt. Frankreich hat diese Sehnsucht nach der Mitte nie entwickelt. Dieses Land hat rechts und links erfunden und seine politischen Lager seit 223 Jahren kultiviert. Die Zugehörigkeit zu einer politischen Richtung ist ein Lebensbekenntnis, sie definiert eine Haltung und natürlich zeugt sie auch vom Wunsch nach ideologischer Konfrontation.

Da steht er nun also, der neue französische Präsident, er hat die Lust an der Ideologie geweckt und damit unfreiwillig klargemacht, was Europa fehlt: die Wahlfreiheit, die Polarisierung, der demokratische Streit - und damit die Leidenschaft, die Menschen für Politik brennen lässt. Hollandes Instinkt hat gezeigt, dass sich mit Leidenschaft Wahlen gewinnen lassen.

Doch Vorsicht: Europa ist nicht stark genug für diese Auseinandersetzung, noch nicht. Hollande wird im Klub der Mächtigen schnell merken, dass die großen Probleme des Kontinents große Koalitionen erzwingen. Als Realist, der er ist, wird er schnell zum Konsensfachmann an der Seite der deutschen Kanzlerin reifen. Aber als französischer Idealist sollte er sich seinen Funken Ideologie bewahren. Wenn Europa und seine Institutionen stark genug wären, könnten sie die politische Schärfe gut vertragen.

© SZ vom 16.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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