In zwei Wochen will Bundesbauminister Horst Seehofer seine "Bilanz der Wohnraumoffensive" vorstellen. Schon jetzt hat das Bündnis "Soziales Wohnen" ihm ein miserables Zeugnis ausgestellt. "Die Bundesregierung hatte sich vorgenommen, in der laufenden Legislaturperiode 1,5 Millionen Wohnungen errichten zu lassen. Das werden wir auf keinen Fall schaffen", sagte der Präsident des Deutschen Mieterbundes, Lukas Siebenkotten, am Freitag. Die Lage bei den Sozialwohnungen sei "dramatisch".
Die Pandemie verschärfe die Lage sozial benachteiligter, älterer und behinderter Menschen weiter. Neben fünf Milliarden Euro zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus forderte das Verbändebündnis, Büroräume zu Wohnungen umzubauen. Viele Menschen würden nach der Rückkehr aus dem Home-Office ihren bisherigen Arbeitsplatz ohnehin nicht mehr vorfinden. Denn etliche Arbeitgeber nutzten die Pandemie, um Büroflächen zu verkleinern.
Rohbauten zählen in der Statistik mit
"Es droht eine verschärfte soziale Wohnungsnot infolge der Pandemie", sagte der Vorsitzende der IG Bauen-Agrar-Umwelt, Robert Feiger, bei einer digitalen Pressekonferenz, an der auch Vertreter der Caritas und der Bauwirtschaft teilnahmen. Das Bündnis, das für soziales und bezahlbares Wohnen eintritt, präsentierte zwei Studien und warf Bundesbauminister Seehofer vor, in seiner Wohnungsbaubilanz auch Rohbauten mitzuzählen und Unterkünfte, die es bisher nur auf dem Papier gebe.
2020 fehlten in Deutschland knapp 670 000 Wohnungen, sagte der Leiter des Eduard-Pestel-Instituts für Systemforschung, Matthias Günther. Gleichzeitig habe sich das Wohnen überproportional verteuert. Das treffe besonders Haushalte mit niedrigem Einkommen. In München seien die Kosten fürs Wohnen seit 2012 um 75 Prozent gestiegen. Selbst in strukturschwachen Regionen wie Rendsburg sei Wohnraum 20 Prozent teurer geworden - bei einem Anstieg der Lebenshaltungskosten um zehn Prozent. Die Zahl der Sozialwohnungen sei von einst vier Millionen auf etwa 1,1 Millionen gefallen, "das reicht vorn und hinten nicht". Für rund acht Millionen Schwerbehinderte in Deutschland gebe es nur knapp eine Million barrierearme Wohnungen.
Dietmar Walberg, Leiter des Bauforschungsinstituts Arge Kiel, erklärte die fehlenden Sozialwohnungen auch mit dem Anstieg der Baukosten. Der Bau eines Quadratmeters Wohnfläche koste mit Neben-und Grundstückskosten fast 3000 Euro. Die Baukosten seien um gut 35 Prozent gestiegen, dazu komme die Erhöhung der Baulandpreise und staatliche Überregulierung. Bei solchen Rahmenbedingungen könne "kein Investor dieser Welt, ohne dass er pleitegeht, eine Kaltmiete unter zwölf Euro anbieten".
Experten fordern: Büroflächen zu Wohnungen umbauen
Verschärft werde die Lage durch "Singularisierung", also den Trend, sich Wohnraum mit immer weniger Menschen zu teilen, sagte der Leiter des Pestel-Instituts, Günther. "Wenn sich das fortsetzt, müssen wir knapp 400 000 Wohnungen pro Jahr bauen bis 2025." Unerfreulich sei auch, dass 2019 nur die Stadtstaaten Hamburg und Berlin sowie Bayern nennenswert eigene Mittel zum Bau bezahlbarer Wohnungen aufgebracht hätten. Nur Hamburg habe sie gesteigert. Sämtliche ostdeutsche Bundesländer außer Berlin hingegen hätten 2019 keinerlei eigene Mittel für sozialen Wohnungsbau eingesetzt. Nötig sei die Rückkehr zur Kofinanzierung der Bundesmittel in gleicher Höhe durch die Länder und eine Förderung von 60 000 Wohnungen im unteren Marktsegment.
Ein weiterer Vorschlag des Bündnisses zur Linderung der Wohnungsnot lautet: Büro- und Gewerbeflächen zu Wohnungen umbauen. Hier biete die Pandemie aus Sicht von Arbeitgebern auch Chancen, sagte Arge-Leiter Dietmar Walberg. Sein Bauforschunginstitut gehe davon aus, dass bis zum Jahr 2040 "eine erhebliche Verlagerung von Arbeitsplätzen" stattfinden werde. Dies betreffe auch die Rückkehr aus dem Home-Office nach dem Ende der Pandemie. In etlichen größeren Unternehmen werde jetzt schon geplant, die Arbeitsfläche dann erheblich zu verkleinern.
Von mehreren Tausend Beschäftigten finde dann "kein einziger seinen Arbeitsplatz wieder, sondern sie werden einen shared desk vorfinden und etwas, das eine völlig andere Arbeitswelt ist". Würden Büro-und Gewerbeflächen zu Wohnraum umgebaut, sei das nicht nur wesentlich billiger als ein Neubau, weil Fassaden, Treppenhäuser und auch Aufzüge schon existierten. Es würden auch Arbeitsflächen "an hochinteressanten Standorten frei", sage Walberg.