Misstrauensvotum gegen Brandt 1972:Aufwallung für Willy

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Der deutsche Schriftsteller Siegfried Lenz in Hamburg im April 1972 während einer Solidaritätskundgebung für Willy Brandt. (Foto: Luka Pavicevic/dpa)

Bernd Rother untersucht, warum im April vor 50 Jahren spontan Hunderttausende auf die Straße gingen, um gegen die geplante Abwahl von Willy Brandt als Kanzler zu protestieren.

Von Werner Bührer

Vor 50 Jahren, am 27. April 1972, stimmte der Deutsche Bundestag über das erste konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik ab. Die CDU/CSU-Fraktion wollte mit dem Antrag erreichen, dass ihr Vorsitzender Rainer Barzel zum Nachfolger Willy Brandts ins Amt des Bundeskanzlers gewählt werde. Die sozialliberale Koalition hatte ihre ohnehin knappe Mehrheit von zwölf Stimmen seit der Wahl im September 1969 durch Fraktionswechsel nach und nach eingebüßt.

Im Frühjahr 1972 betrug der Vorsprung nur noch vier Stimmen. Und es kursierten Gerüchte, weitere Abgeordnete - drei von der FDP und einer von der SPD - seien zum Übertritt entschlossen. Dennoch zögerte der Kanzler 'in spe'. Zwar hielt sich laut Umfragen die Zufriedenheit mit der Regierungspolitik insgesamt in Grenzen, doch die Ostpolitik erfreute sich großer Zustimmung, und auch Brandt selbst erreichte hohe Sympathiewerte.

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Als die CDU schließlich bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 23. April die absolute Mehrheit eroberte, drängte insbesondere Franz Josef Strauß den zögernden Barzel zur Tat. Der Ausgang ist bekannt: Barzel fehlten zwei Stimmen. Die Süddeutsche Zeitung schrieb vom "Wunder von Bonn". Aber wie es bei "Wundern" manchmal so ist, ging auch bei diesem offensichtlich nicht alles mit rechten Dingen zu.

Fundamentaldemokratisierung oder Angriff aufs Grundgesetz?

Von diesen "verdeckten Operationen" und Geldflüssen handelt das Buch des Historikers und langjährigen stellvertretenden Geschäftsführers der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Bernd Rother, jedoch nur am Rande. Ihm geht es vielmehr um die bislang wenig beachteten Proteste, an denen sich bundesweit mehr als 400 000 Menschen beteiligten.

Wer initiierte und organisierte diese Proteste? Gab es Schwerpunkte in bestimmten Regionen oder Branchen? Welche Aktionsformen und Parolen dominierten? Und, allgemeiner gefragt: Welche Bedeutung hatten die Massenproteste für die politische Kultur der Bundesrepublik? Waren sie Teil der "Fundamentaldemokratisierung" der Gesellschaft? Oder handelte es sich, im Gegenteil, um einen Angriff auf die parlamentarisch-repräsentative Demokratie und die Verfassung? Immerhin lehnten die Protestierenden und Streikenden das "verfassungsgemäße Prozedere" eines Misstrauensvotums nach Artikel 67 Grundgesetz als "illegitim" ab.

Um das Protestgeschehen rekonstruieren zu können, wertete Rother mehr als 30 regionale und überregionale Zeitungen aus, dazu Publikationen linksradikaler Gruppen und Parteien von der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) über trotzkistische bis zu maoistischen Organisationen, die in der Internetdatenbank "Materialien zur Analyse von Opposition" erfasst sind. Einige Dokumente fand er auch in Rundfunkarchiven und im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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In einem ersten Schritt geht Rother kurz auf politische Streiks vor 1972 ein, die - im Unterschied zu einigen west- und südeuropäischen Ländern - in Deutschland "nicht zu den traditionellen Aktionsformen der Arbeiterbewegung" zählten. Im September 1969 erlebte die Bundesrepublik zur Überraschung vieler Beobachter eine "bisher nicht gekannte Welle" spontaner, gewerkschaftlich nicht gesteuerter Streiks mit mindestens 140 000 Teilnehmern.

Diese Proteste waren zwar überwiegend ökonomisch motiviert, hatten aber erhebliche Auswirkungen auf die politische Debatte. Kündigte sich eine "Reaktivierung und Repolitisierung" der Arbeiterschaft an, mithin eine Renaissance der Arbeiterklasse als "Subjekt gesellschaftlichen Wandels"? Die meisten sozialwissenschaftlichen Analysen kamen indes zu dem Ergebnis, dass keine "Politisierung der Arbeiter" stattgefunden habe; selbst ein DKP-nahes Forschungsinstitut resümierte, dass "überall eine deutliche Allergie gegenüber politischen Forderungen" unverkennbar sei.

Proteste "von unten und außerhalb der Partei"

Umso größer war die Überraschung im Parteivorstand der SPD und in den Vorständen der Gewerkschaften, als am 25. April, einem Dienstag, Demonstrationen, Kundgebungen und Streiks begannen, die bis zum Nachmittag des 27. April, dem Termin der Abstimmung über den Misstrauensantrag, anhielten. Hinweise dafür, dass die Demonstrationen und Streiks pro Brandt "von der SPD initiiert oder gar gesteuert worden" wären, fand Rother nicht. Vielmehr sei der Druck "von unten und von außerhalb der Partei" gekommen.

Besonders heftig "loderten die 'Feuer' im Ruhrgebiet": Schon am Dienstag, wusste die Süddeutsche Zeitung zu berichten, hätten die "Betriebsräte der insgesamt 28 000 Dortmunder Hoesch-Arbeiter den Fraktionsvorständen in Bonn telegraphiert, die Stimmung stehe 'auf Sturm'". Aber auch im Bergischen Land und in Ostwestfalen fanden Streiks und Proteste statt. Nach Nordrhein-Westfalen bildete Hessen mit Kassel und dem Großraum Frankfurt den zweiten Streikschwerpunkt, gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg. Die häufigste und, gemessen an den Teilnehmerzahlen, wichtigste Form des Protests waren Betriebsversammlungen mit insgesamt fast 300 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Etwa 130 000 Menschen nahmen an Demonstrationen und Kundgebungen teil.

Bernd Rother: "Willy Brandt muss Kanzler bleiben!" Die Massenproteste gegen das Misstrauensvotum 1972. Campus-Verlag, Frankfurt 2022. 203 Seiten, 26 Euro. E-Book: 23,99 Euro. (Foto: N/A)

Rother ist sich durchaus bewusst, dass die Protestierenden im April 1972 eine Minderheit bildeten, verglichen beispielsweise mit den sieben Millionen Mitgliedern des Deutschen Gewerkschaftsbundes oder den etwa 22 Millionen abhängig Beschäftigten. Derartige Vergleichsrechnungen weist er jedoch als "unpolitisch" zurück, schließlich sei bei keiner Protestbewegung eine Bevölkerungsmehrheit auf die Straße gegangen. Er insistiert deshalb darauf, dass die Mobilisierung gegen das Misstrauensvotum "die größte Protestbewegung" seit der Kampagne "Kampf dem Atomtod" von 1958 gewesen sei. Übertroffen wurde sie erst von den Protesten gegen die Nachrüstung im Oktober 1983 mit etwa 1,3 Millionen Menschen.

Nordrhein-Westfalen war der Hotspot

Nach dem höchst anschaulichen Bericht über die Ereignisse vor dem 27. April widmet sich der Autor der Analyse der Ereignisse. So hält er beispielsweise fest, dass Nordrhein-Westfalen mit etwa 60 Prozent der Proteste den Schwerpunkt bildete, bei den Branchen war es die Metallindustrie, während Bergbau, Chemie- und Textilindustrie überraschenderweise "fast völlig fehlten". Wenige Erkenntnisse kann Rother zur Genese und Dynamik der Proteste zutage fördern. Zwar gab es in Gestalt von Brandt eine "unumstrittene Leitfigur", doch 'vor Ort' scheint es keine Anführer im engeren Sinne des Wortes gegeben zu haben. Ein Fazit lautet deshalb, dass die Streiks und Proteste "nicht von außen in die Betriebe" getragen wurden. Der "Unmut über den Misstrauensantrag entstand buchstäblich über Nacht".

Spätestens am Morgen des 25. April hätten "so gut wie alle" von der Absicht der CDU/CSU gewusst. Und diese "Absicht, den Bundeskanzler zu stürzen, rief eine breite Ablehnung hervor". Selbst das Familienoberhaupt der Hohenzollern, Louis Ferdinand, beglückwünschte Brandt per Telegramm "von ganzem Herzen" zum "persoenlichen Triumpf". Und auch die parlamentarische Demokratie, so ein zweites Fazit, sei "gestärkt aus der Krise" hervorgegangen. So "kurzfristig und eruptiv" der Protest begonnen hatte, so schnell kehrte der Alltag wieder ein, zumal die meisten Zeitgenossen von den wechselseitigen Bestechungsversuchen (noch) nichts wussten.

Rother hat eine wunderbare und enorm informative Studie vorgelegt über ein Thema, das in der öffentlichen Wahrnehmung bislang keine nennenswerte Rolle spielte. Die Forschung und das Feuilleton sind ja gerade dabei, das Jahr 1972 neu zu entdecken. Die Proteste dieses Jahres können durchaus als wichtiges Element dieser Neubewertung verstanden werden.

Werner Bührer ist Zeithistoriker. Er lebt in München.

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