Seit der Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty berichten auch in Deutschland Lehrkräfte von Einschüchterungen und Bedrohungen durch islamistische Schüler. Zwar sind es Experten zufolge nicht viele Jugendliche, die tatsächlich gewaltbereit sind oder etwa mit dem IS sympathisieren. Das Verhalten einiger gibt jedoch Anlass zur Sorge: Sie sagten, der Lehrer Paty habe den Tod verdient. So berichtet es der Psychologe Ahmad Mansour, der selbst an deutschen Schulen und in Gefängnissen Kurse gegen Radikalisierung gibt.
Außerdem gebe es immer wieder Fälle von Antisemitismus, religiös begründeter Frauenfeindlichkeit und Mobbing aus religiösen Gründen. "Das zeigen die vielen E-Mails von Lehrern, die ich seit Jahren bekomme, und meine tägliche Erfahrung während der Arbeit in Schulen", sagt Mansour. "Schon 2015 hatten wir Schüler, die den Anschlag auf Charlie Hebdo gerechtfertigt haben."
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Konkrete Zahlen zu radikalen Einstellungen in der Schülerschaft lassen sich kaum finden. Hans-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, fordert deshalb eine entsprechende bundesweite Studie. Aber auch ohne eine solche scheint klar: Wichtige gesellschaftliche Werte - Religions- und Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Würde des Menschen - werden von manchen Schülern nicht verinnerlicht. Das gilt nicht nur für Islamisten, sondern natürlich auch für Rechtsextreme. Dennoch zeigt der Fall Paty, dass man sich mit dem Phänomen Islamismus an Schulen beschäftigen muss.
Es ergeben sich wichtige Fragen: Wie kommt es, dass die Wertevermittlung offenbar zumindest teilweise gescheitert ist? Wie lässt sich die Situation verbessern? Und könnte ein Wertekundeunterricht helfen?
Fehler der Vergangenheit
Zu den Ursachen für die gegenwärtigen Probleme gehören Experten zufolge Fehler der Vergangenheit. Unter den islamistischen Schülern finden sich vor allem Kinder, Enkel und Urenkel von Migranten, die hier aufgewachsen sind. "Unsere Gesellschaft hat diese überwiegend muslimischen Kinder nicht als 'unsere Kinder' behandelt", sagt Klaus Barwig, langjähriger Leiter des Fachbereichs Migration und Menschenrechte an der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart.
Das habe bei manchen von ihnen über Generationen zu einer "Perlenkette von Frustrationserfahrungen geführt". Der Migrationshintergrund spiele noch immer eine große Rolle für den Schulerfolg, sagt Barwig. Wer aber über Generationen hinweg in der Unklarheit lebt, gehen zu müssen oder bleiben zu können, für den bleiben mitgebrachte und hier weiter tradierte Werte und Vorstellungen aus der "Heimat" von Bedeutung.
Hinzu kommt, dass viele Kinder, deren Eltern etwa aus der Türkei stammen, in etlichen Bundesländern seit Jahrzehnten "Konsulatsunterricht" erhalten: Sie werden in türkischer Sprache und Heimatkunde unterrichtet, von Lehrern, die vom türkischen Staat ausgewählt und bezahlt werden. Da müsse man sich nicht wundern, wenn die Kinder "kulturell und wertmäßig verwirrt sind", so Barwig. Aus allen diesen Gründen besinnen sich viele auf ihre Herkunft und fühlen sich eher als Türken oder Araber - trotz des Doppelpasses.
Werte erleben durch Teilhabe an der Gesellschaft
Die Bundes- und Landesregierungen in Deutschland haben daraus gelernt. Das belegt zum Beispiel der unlängst veröffentlichte Bericht zum Nationalen Aktionsplan Integration der Bundesregierung, der das Thema "Werte" schon im Titel anspricht: "Erstintegration: Ankommen erleichtern - Werte vermitteln".
In dem Papier geht es überwiegend darum, wie sich die Teilhabe der Migranten an der Gesellschaft erleichtern lässt - mittels Sprachkursen und besseren Chancen auf eine Ausbildung oder einen Job. Außerdem setzt die Regierung auf die Zivilgesellschaft, auf Ehrenamtliche, Aktivisten, Vereine und lokalen Institutionen, die gefördert werden. Namentlich erwähnt wird etwa das Programm "Kultur macht stark - Bündnisse für Bildung" für benachteiligte Kinder und Jugendliche.
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Es geht um Beihilfe zum Mord und verleumderische Denunziation im Fall Samuel Paty. Der Lehrer hatte das Thema Meinungsfreiheit gelehrt und Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt.
Um die Vermittlung von Werten wie Meinungs- oder Religionsfreiheit geht es in den geförderten Projekten allerdings meist gar nicht, sondern ebenfalls um Teilhabe. Ähnlich ist es mit den Projekten, die das Bundesfamilienministerium durch das Programm "Demokratie leben" unterstützt.
Darüber hinaus hofft die Regierung, dass Kindern und Jugendlichen unabhängig von der Herkunft an den Schulen und Kitas Werte vermittelt werden. Der Aktionsplan fordert hier allerdings lediglich, das Personal der Bildungsinstitutionen dürfe nicht diskriminierend und rassistisch auftreten, sondern solle Rücksicht auf die Herkunft der Kinder nehmen.
Wertevermittlung oder Wertedialog?
Wenn es um eine direkte Vermittlung der Werte der säkularen, liberalen Demokratie geht, ist weder in dem Plan noch sonst irgendwo viel Konkretes zu finden. Erwähnt wird noch der Integrationskurs für Migranten. Ob die Teilnehmer die Werte, die ihnen dort erklärt werden, danach verinnerlicht haben, darüber gibt der simple Abschlusstest des Kurses allerdings keine Auskunft.
Eine Möglichkeit, Werte zu vermitteln, sieht die Regierung auch in Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund selbst, etwa dem Verband für Interkulturelle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity (VIW), ein Dachverband migrantischer Organisationen in Deutschland. Diese sehen sich allerdings zuerst als Interessenvertreter der Migranten.
Schule und Islam:Angst vor französischen Verhältnissen
An einer Berliner Schule droht ein Elfjähriger, seine Lehrerin zu enthaupten. Der Schock sitzt tief, auch weil andere Schüler sich ähnlich geäußert hatten.
Die Iranische Gemeinde in Deutschland etwa sucht "den Wertedialog auf Augenhöhe, statt einseitig Werte zu vermitteln", wie es auf ihrer Homepage heißt. Andere Kulturen sollten "gleichberechtigt" in einen Prozess des Wertedialoges miteinbezogen werden. Ein Wertedialog auf Augenhöhe bedeutet, dass den Werten der Gesellschaft in Deutschland andere Werte gegenübergestellt werden dürfen und sollen. Ob das Wertevermittlung im Sinne der Bundesregierung ist, ist fraglich.
"Es gibt gute Projekte", sagt der Experte Mansour, "aber vielen Akteuren geht es nicht wirklich um die Vermittlung der Werte, die sich aus unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ableiten lassen." Er habe selbst erlebt, dass manche das als "postkolonialistisch und diskriminierend" ablehnten.
Viele Projekte seien auch gescheitert, weil bei der Umsetzung die unbequemen Themen ausgeblendet worden seien, aus Angst vor Konflikten. "Man redet über Gleichberechtigung, über das Grundgesetz, aber man wird nie konkret", so seine Beobachtung. "Man spricht nicht darüber, ob die Tochter mit 18 Jahren ausziehen, sich verlieben, Sex haben und einen Nichtmuslim heiraten darf, und dass dieser Staat alles tun muss, um diese Freiheit zu gewährleisten." Auch über das Existenzrecht Israels würde nicht gesprochen oder über das Recht, Religionen zu kritisieren.
Er fordert, den Menschen mit Argumenten zu begegnen, ihre Ängste wahrzunehmen, mit ihnen daran zu arbeiten - aber zugleich die eigene Sichtweise selbstbewusst zu vertreten. Hier sieht er auch die Politik in der Pflicht, die die Werte dieser Gesellschaft klarer kommunizieren und einfordern müsse. Nur auf das Grundgesetz zu verweisen, sei zu abstrakt.
"Während wir uns immer wieder in Diskussionen und Relativierungen verlieren - etwa über die Frage, ob wir die Burka als Ausdruck von Vielfalt akzeptieren wollen -, verfestigt sich in unserer Gesellschaft eine patriarchalische Parallelgesellschaft, die kaum noch zu erreichen ist", warnt er. "Diese Menschen leben selbstsicher ihren Fundamentalismus als Ausdruck von Freiheit aus."
Wertevermittlung an Schulen: erfahren und einüben
Große Bedeutung für die Wertevermittlung misst die Regierung der Schule bei. Wie die Sprecherin der Integrationsbeauftragten der SZ sagt, müsse "Wertevermittlung von Anfang an, also in der frühkindlichen Bildung sowie in den Schulen stattfinden". Auch die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD), betont: "Unsere Schulen sind die Orte, an denen diese zentralen Werte vermittelt werden."
Und wie? "Im gemeinsamen Austausch darüber, was die Werte unseres Grundgesetzes im täglichen Zusammenleben konkret bedeuten", so die Sprecherin der Integrationsstaatsministerin. Idealerweise könnten gemeinsame Werte zwischen den Kulturen Anknüpfungspunkte sein, "um auf Augenhöhe über die Unterschiede und Grenzen zu sprechen".
Ähnlich äußert sich Hubig. Demokratiebildung und die Vermittlung unserer Werte sei "Aufgabe der ganzen Schulgemeinde und aller Fächer". Wichtig sei, dass die demokratischen Werte in der Schule im Alltag gelebt würden und die Schülerinnen und Schüler sie lernen, indem sie diese erfahren und einüben. Auch aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung heißt es: "Wertevermittlung ist die Aufgabe aller Bildungsakteure über sämtliche Bildungsetappen hinweg."
Kein verbindlicher Wertekundeunterricht für alle
2018 hatten die Fraktionschefs der Union im Bundestag und den Ländern gefordert, einen verbindlichen Wertekundeunterricht für alle Flüchtlingskinder einzuführen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Integrationsbeauftragte hatten den Vorschlag begrüßt. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU) sprach sich sogar für einen solchen Unterricht für alle Kinder und Jugendliche bundesweit aus. Für diese Idee spricht, dass nicht nur islamistische, sondern auch rechtsextreme Terroristen in Deutschland Menschen töten.
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Der Begriff Parallelgesellschaft steht für gescheiterte Integration und das Ende von Multikulti. Jetzt müsste nur noch klar sein, wovon wir eigentlich sprechen. Und wie groß das Problem tatsächlich ist.
Umsetzen müssten es allerdings die Länder. Bayern hat inzwischen für die Deutschklassen für Migranten das Fach "Kulturelle Bildung und Werteerziehung" eingeführt. Es zielt darauf, Kindern die Gelegenheit zu geben, "sich altersgemäß mit den mitgebrachten sowie den verschiedenen neu erfahrenen Antworten auf Sinnfragen auseinanderzusetzen, um in politischen, religiösen, kulturellen und sozialen Zusammenhängen zu eigenen, reflektierten Werthaltungen zu finden." Das, so hofft man im bayerischen Kultusministerium offenbar, sollen dann jene Haltungen sein, die mit dem Wertesystem in Deutschland übereinstimmen.
Staatsministerin Widmann-Mauz befürwortet weiterhin "bundesweit herkunftssprachliche Wegweiserkurse für Asylsuchende". Auch Ahmad Mansour findet einen Wertekundeunterricht für Migranten wichtig, doch es komme darauf an, die richtigen Themen - etwa die Sozialisation und die Ängste vor dem Verlust der eigenen Identität - auch in aller Deutlichkeit anzusprechen. "Es ist naiv zu glauben, das wäre mit einigen Stunden getan, und mit Lehrkräften, die nicht intensiv dafür ausgebildet sind." Die Botschaft sollte sein: "Wer meint, seine patriarchalischen oder extremistischen Einstellungen hier weiterleben zu können, wird in Deutschland nicht glücklich - und verspielt in Extremfällen sogar den Aufenthalt."
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz hält davon jedoch nichts. Zwar würden Anschläge mit islamistischem, rechtsextremistischem oder anderem menschenfeindlichem Hintergrund dazu auffordern, auch in der schulischen Bildung immer wieder zu überprüfen, wo Ansätze noch präzisiert und verstärkt werden könnten. Allerdings meint sie damit "passgenaue Gewalt-Präventionsangebote, die wir an unseren Schulen bereits verwirklichen und die sich an alle Kinder - unabhängig von ihrer Herkunft - richten".
Mansour dagegen wünscht sich einen Wertekundeunterricht für alle - an der Grundschule und auch danach. "Die Schulen haben auf die Frage der Vielfalt oder der Radikalisierung im Moment kaum Antworten", sagt er. Die Schüler würden in ihrer demokratischen Entwicklung kaum unterstützt - was nicht an den Lehrerinnen und Lehrern liege, sondern an der Politik. "Statt den Lehrkräften wirklich zu helfen, lässt sie Angebote und Fortbildungen zu, die eher verwirren und dazu bewegen, Probleme mit Migranten im Zweifel herunterzuspielen oder zu verschweigen." Die Schulen müssten darüber hinaus mehr mit den Eltern arbeiten. Und wenn das nicht funktioniert, auch gegen sie.