Der Begriff "Parallelgesellschaft" steht für ein angebliches Scheitern der Integration von Migranten und für das Ende der Idee von einer multikulturellen Gesellschaft. Und wenn es um Muslime geht, schwingt Angst mit: Angeblich lehnen große Teile der muslimischen Bevölkerung die Kultur der Mehrheitsgesellschaft und ihre Regeln ab.
Als Belege werden Viertel deutscher Großstädte angeführt, in denen Menschen mit Migrationshintergrund das Bild in vielen Bereichen prägen - von der Sprache über die Kleidung bis hin zu Geschäften, Kinos, Restaurants und Vereinen. Stichworte, die häufig fallen, sind Zwangsheirat, Friedensrichter oder sogar "Ehrenmord". Auch die Verbundenheit vieler Türken oder Türkeistämmigen mit ihrer Heimat, mit der regierenden AKP und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan - kürzlich einmal mehr zu beobachten in Köln, als Zehntausende für Erdoğan demonstrierten - irritiert manche Beobachter.
Doch sind Parallelgesellschaften wirklich "längst Realität", wie es etwa vor einiger Zeit das ZDF behauptete?
Diskussion seit 1996
Erstmals verwendet wurde der Begriff 1996 von dem Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer in der Zeit: "Es besteht die Gefahr, dass religiös-politische Gruppen eine schwer durchschaubare 'Parallelgesellschaft' am Rande der Mehrheitsgesellschaft aufbauen könnten."
Doch bis heute, dreißig Jahre später, sind sich Experten nicht einig, was unter Parallelgesellschaften eigentlich zu verstehen ist. Erst 2002 versuchte sich etwa Thomas Meyer von der Universität Dortmund an einer Definition: Neben Eigenschaften wie der Homogenität bezüglich Ethnie, Kultur oder Religion müssten sich die Betroffenen demnach freiwillig abschotten und für fast alle Institutionen der Mehrheitsgesellschaft Alternativen anbieten.
Seine Definition allerdings lege die Messlatte ausgesprochen hoch, stellten Dirk Halm und Martina Sauer vom Zentrum für Türkeistudien an der Universität Essen 2005 fest. Sie hatten untersucht, ob sich unter den Türkeistämmigen in Nordrhein-Westfalen Parallelgesellschaften herausgebildet hatten. Ihr Schluss, den sie bis heute durch weitere Umfragen bestätigt sehen: Es gibt sie nicht - zumindest nicht in dem von Meyer definierten Sinn.
"Auch die Menschen in Stadtvierteln, die vor allem von einer bestimmten Herkunftsgruppe stark gekennzeichnet sind, können sich nicht komplett von der Mehrheitsgesellschaft zurückziehen", sagt Sauer der SZ. "Zumindest partiell müssen sie mit ihr in Kontakt kommen."
"Klima der Angst"
Doch was ist mit Communitys etwa in Teilen Berlins, die von geschlossenen, patriarchalisch geformten Großfamilien und Clans gebildet werden, die gewalttätig sind und von staatlichen Behörden nur noch unzureichend kontrolliert werden? Diese Strukturen existieren tatsächlich, wie Mathias Rohe und Mahmoud Jaraba unlängst belegten. Von einem "Klima der Angst", schreiben die Erlanger Wissenschaftler in ihrer Studie.
Betroffene seien Opfer häuslicher Gewalt und Opfer oder Zeugen krimineller Handlungen, die, zur Wahrung des Familienzusammenhalts oder der Familienehre, daran gehindert werden, staatliche Behörden einzuschalten. Zudem werde im salafistischen Milieu die deutsche Rechtsordnung generell als "menschengemachtes Recht" abgelehnt.
Es geht hier vor allem um die Lebenswelten von Menschen in ganz bestimmten Familien oder Clans mit extrem traditionell oder religiös geprägter interner sozialer Kontrolle. "Auch wenn es für die Betroffenen dramatisch ist - es handelt sich um ein eher kleines Phänomen", sagt Martina Sauer. "Und es geht nicht um DIE Türken oder DIE Muslime."
"Parallelgesellschaften existieren definitiv"
Eine solche Verallgemeinerung hält auch Ahmad Mansour für falsch. Aber die Dimension des Problems ist seiner Einschätzung nach alles andere als klein. Mansour ist Programmdirektor bei der European Foundation for Democracy in Brüssel und arbeitet in den Projekten Heroes und Hayat in Berlin zur Gewaltprävention und gegen die religiöse Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen.
"Parallelgesellschaften existieren definitiv", sagt der Psychologe. Zwar gebe es keine Communitys von Migranten mit eigenen Gerichten, Polizei oder Krankenhäusern. Aber in Deutschland lebten auch Menschen, die ganz andere Werte leben und vermitteln, als es dem Grundgesetz entspricht.
"Wenn wir zum Beispiel über patriarchalische Strukturen reden und darüber, wie das Familienrecht oder die sexuelle Selbstbestimmung betrachtet werden, geht es nicht nur um eine kleine Gruppe", sagt Mansour. "Die meisten muslimischen Migranten versuchen, entsprechende Probleme erst in der Familie zu klären. Und da haben Frauen in der Regel weniger Rechte als Männer."
Auch die kritische Haltung zur Religionsfreiheit und der Gleichberechtigung Andersgläubiger sei bei vielen konservativen Muslimen problematisch, sagt Mansour. Selbst in abgeschwächter Form könnte dies den Nährboden bieten für die Entwicklung der extremeren Varianten. Kinder, die unter diesen Bedingungen aufwachsen, können Einstellungen übernehmen, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Viele entwickeln sogar Sympathie für Islamisten und im schlimmsten Fall werden manche zu IS-Anhänger.