Am Sonntag haben die Schweizerinnen und Schweizer ein neues Parlament gewählt. Mit einem Anteil von 27,9 Prozent hat sich zum sechsten Mal in Folge die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) als stärkste Kraft behauptet; sie erzielte gut zwei Prozent mehr als 2019. Wie die Verluste der Grünen gehört der SVP-Gewinn zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Wahl. Doch was bedeuten die Verschiebungen konkret für die kommenden vier Jahre?
Zunächst gilt festzuhalten, dass Parlamentswahlen in der Schweiz vergleichsweise geringe Folgen haben. Erstens wirken sie sich nur indirekt aus auf die Zusammensetzung der Schweizer Regierung. Der Bundesrat, ein stets siebenköpfiges Gremium, soll grob die wichtigsten politischen Kräfte im Land abbilden. In den vergangenen Jahrzehnten waren das die vier stärksten Parteien im Parlament. Sie erhielten Sitze gemäß der sogenannten Zauberformel: je zwei für die drei stärksten, einen für die viertstärkste Kraft im Parlament. Dass diese Formel nur eine grobe Richtlinie ist, mussten 2019 die Grünen erfahren. Sie hatten deutlich zugelegt bei den Wahlen, erhielten aber trotzdem keinen Sitz im Bundesrat. Erst mal abwarten, hieß es damals, ob sich der Trend verstetigt. Jetzt haben die Grünen wieder Anteile verloren, doch die Ergebnisse sind insgesamt so uneindeutig, dass auch einige Politiker die Zauberformel in Frage stellen und eine Änderung bei den Bundesratswahlen im Dezember ins Spiel bringen.
Meistens kommt es zu einem Kompromiss in der Mitte
Zum Zweiten funktioniert Politik in der Schweiz nicht nach dem Mehrheits-, sondern dem Proporzprinzip. Auch eine sehr starke SVP, die immerhin zwei von sieben Bundesräten und die größte Fraktion im Nationalrat stellt, kann in diesem System nicht durchregieren - sie muss sich je nach Geschäft Bündnispartner suchen. Das ist auch auf kantonaler und kommunaler Ebene so. Die Folge: Kaum irgendwo in der Schweiz wird Politik so heiß gegessen, wie sie in Kampagnen gekocht wird. Meistens mittet ein parlamentarischer Kompromiss die Inhalte ein. Der unberechenbare Faktor sind in diesem System vor allem die Volksabstimmungen, die Parteien nutzen sie entsprechend auch für eine Art außerparlamentarische Oppositionspolitik. Hier werden manchmal aufwendige Gesetzesprojekte an einem Tag gekippt.
Der dritte Grund, warum sich die Parteistärken in der Schweiz oft nicht eins zu eins in Politik übersetzen lassen, hat mit den zwei Kammern des Parlaments zu tun. Beispiel 2019: Der 200-köpfige Nationalrat, der sich nach Parteistärken zusammensetzt, rückte damals dank grüner Zugewinne nach links. Das kam aber gar nicht so stark zum Tragen, weil gleichzeitig die kleine Kammer, der Ständerat, aufgrund der personellen Zusammensetzung konservativer geworden war.
Diesmal sieht es so aus, als würden beide Kammern nach rechts rutschen. Ganz genau wird man das erst im November wissen, wenn die zweiten Wahlgänge für den Ständerat stattfinden. Kommt es dann wirklich zu linken Verlusten, dürften es linke oder grüne Vorhaben im künftigen Parlament tatsächlich schwerer haben.
Die Dynamik im Ständerat zeigt, dass es meist nicht die SVP allein ist, die hinter dem Erfolg rechter oder bürgerlicher Politik steht, sondern Allianzen mit anderen bürgerlichen Parteien. Aufgrund dieser ständigen Bündnisse und Kompromisse erscheint die SVP vielen in der Schweiz deutlich weniger radikal als etwa die deutsche AfD.
Die meisten kommen als Arbeitskräfte. Doch die Rechte spricht von "Asylchaos"
Doch stimmt das? Gerade die vergangene Wahlkampagne war so ausländer- und migrationsfeindlich wie lange nicht. Die SVP schürte die Angst vor einer "Zehn-Millionen-Schweiz" und bebilderte das vor allem mit gewalttätigen, meist dunkelhäutigen Männern.
Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren sehr viele Menschen in die Schweiz eingewandert, im September lebten erstmals neun Millionen Menschen im Land. Unter den Neuankömmlingen sind natürlich auch Geflüchtete und Schutzsuchende, etwa aus der Ukraine, aber den Großteil der Eingewanderten machen nach wie vor EU-/Efta-Bürger aus, die primär als Arbeitskräfte einwandern. Die SVP sprach jedoch im Wahlkampf von "maßloser Zuwanderung" und "Asylchaos" - eine ziemliche Verkürzung der Fakten.
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Im Wahlkampf zeigten zudem mehrere SVP-Politiker keinerlei Berührungsängste mit extremeren Strömungen. In einigen Kantonen ging die Partei Bündnisse ein mit der teils antisemitischen Bewegung "Mass-Voll". Eine SVP-Politikerin aus Winterthur beschäftigte für ihren Wahlkampf Mitglieder der rechtsextremen Gruppe "Junge Tat". Und Parteipräsident Marco Chiesa ließ sich im Bundeshaus mit einer rechten Frauengruppierung aus der Westschweiz ablichten. Eine Distanzierung der SVP zu diesen Vorfällen gab es nicht.
Im Unterschied zur AfD ist die SVP zwar eine alteingesessene Schweizer Partei, in der auch heute noch viele gemäßigte, oft bäuerlich geprägte Politiker aktiv sind. Doch sie ist anschlussfähig an radikalere rechte Kreise und prägt mit ihren teils hetzerischen Kampagnen nicht zuletzt den Diskurs im Land. Experten wie der Schweizer Historiker Damir Skenderovic warnen vor einer zunehmenden Normalisierung der SVP durch die anderen Parteien - und auch die Medien. So titelte die Zeitung Blick am Tag nach den Wahlen: "Jetzt ist die Schweiz wieder normal".