Als Herausforderer, der gegen eine stabil im Amt sitzende Kanzlerin antritt, versucht Martin Schulz in mehreren Anläufen, Angela Merkels schwache Seite zu finden. Sein jüngster Vorstoß betrifft die Flüchtlingspolitik: In mehreren Interviews hat der SPD-Kandidat vor einer Wiederholung der Krise von 2015 gewarnt - und dafür Kritik von politischen Gegnern, aber auch von Medien einstecken müssen. Viele warfen ihm taktisches Kalkül vor. Die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling, die als Wahl-Watcher für die SZ den Bundestagswahlkampf beobachtet, kritisiert, dass die Berichterstattung zu wenig auf Inhalte schaue.
SZ: Frau Wehling, Martin Schulz hat das Thema Flüchtlinge nach einem halbherzigen Versuch, es zu seinem Wahlkampfthema zu machen, wie eine heiße Kartoffel wieder fallen gelassen. Hat er sich verschätzt?
Elisabeth Wehling: Schulz hatte einen unglücklichen Start in der Sache: Er hat ein Bedrohungsszenario skizziert, dabei auch noch übertrieben, und wollte Angela Merkel dafür die Schuld zuschieben. Dieser Plan ist nicht aufgegangen, stattdessen hagelte es Kritik, weil er mit Ängsten zündle und so der AfD in die Hände spiele.
War diese Kritik nicht berechtigt?
Zunächst ist es nachvollziehbar und richtig, dass er das Thema aufgegriffen hat; es handelt sich dabei ja um eine wichtige politische Herausforderung. Alle Parteien sollten eigentlich darüber sprechen, wie sie an die Sache rangehen wollen. Aber Schulz hat nicht nur den Fehler gemacht, Merkel für etwas zu kritisieren, was sie nicht getan hat - sie hat ja die Grenzen 2015 nicht geöffnet, sondern sie nur nicht geschlossen. Er formulierte auch in der Kürze des Interviews viel zu eindimensional, machte nicht greifbar, wo er sich von seinen politischen Gegnern unterscheidet. Als Kandidat einer progressiven Partei wie der SPD hätte er das Thema anders angehen müssen.
Nämlich wie?
Er hätte zeigen sollen, dass er die Lage so komplex sieht, wie sie tatsächlich ist. Schulz hat ja bei anderen Gelegenheiten bereits bewiesen, dass er mehrere Faktoren im Blick hat, um Herausforderungen wie Flucht und Migration anzugehen. Dafür müssen nicht nur die europäischen Staaten solidarisch kooperieren, sondern auch Fluchtursachen bekämpft werden. Schulz hat schon mehrmals über eine Verringerung von Waffenexporten und den Kampf gegen Ausbeutung in Afrika gesprochen. Er müsste nur viel stärker betonen, dass er dieses große Ganze im Blick hat, wenn er über Asylpolitik spricht. Im Interview hat er das angerissen, aber nicht zum zentralen Thema gemacht.
Wieso sollte ihm das nützen?
An der Universität Berkeley erforschen wir, wie unterschiedlich Menschen denken, die konservativ beziehungsweise progressiv eingestellt sind. Es ist empirisch belegt, dass konservative Menschen eher direkt-kausal denken, also eine Ursache mit einer direkten Folge verknüpfen. Menschen mit einer progressiven Ideologie dagegen denken systemisch-kausal, oder wenn Sie so wollen, komplexer. Sie sehen mehrere vernetzte Ursachen für ein Problem. Da progressiv eingestellte Menschen potenzielle SPD-Wähler sind, müsste Schulz diese ansprechen.
Und das würde er, wenn er immer wieder betont, wie komplex die Welt ist und wie vielfältig die Ursachen von Flucht sind?
Ja, jedenfalls besser, als er das bisher getan hat. Schulz' Wahlkampfstrategie müsste es sein, die ganze Zeit zu betonen, dass er dieses Netz aus Faktoren im Blick hat und nicht an eine einzelne Ursache - wie zum Beispiel, die Kanzlerin habe 2015 die Grenzen geöffnet - glaubt.
Vielleicht hat Martin Schulz Angst, die Menschen erst recht zu überfordern, wenn er immer wieder sagt, die Welt sei zu komplex, um sie zu überblicken.
Komplex heißt ja nicht gleich zu komplex. Schulz verspielt eine Trumpfkarte der SPD auf diese Weise. Zumal unsere Forschung auch zeigt: Sogar konservativ eingestellte Menschen tendieren zu progressiven politischen Entscheidungen, wenn sie mit zusammenhängenden Faktoren und systemischem Denken konfrontiert werden. Er könnte also sogar neue Wähler gewinnen, wenn er diese Strategie stärker verfolgt.
Wovon hängt es ab, ob jemand eher systemisches Denken oder eher direkt-kausales Denken bevorzugt?
Das ist eine psychologische Präferenz, die anders als man vielleicht vermuten könnte, nicht mit Intelligenz oder Bildungsstand zusammenhängt. Vielmehr ist sie durch bestimmte Lebenserfahrungen geprägt: Wenn etwa Menschen Literatur lesen, steigt ihr Empathievermögen und ihre Fähigkeit unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Das hilft beim systemischen Denken.
Dass Politiker eher zu einfachen Antworten tendieren, kann aber doch auch eine Folge der Berichterstattung sein: Allzu oft werden gerade komplexe Sachverhalte heruntergebrochen, um sie verständlich und anschaulich zu machen.
Das stimmt. Vor diesem Hintergrund ist auch interessant, dass Schulz sich entschieden hat, sein Interview über das Thema Flüchtlinge der Bild am Sonntag zu geben, wo nicht das gesamte Gespräch im Wortlaut, sondern nur einzelne Sätze oder sogar nur Worte zitiert wurden. Hier fand eine zusätzliche Vereinfachung statt, die seiner Aussage geschadet und ihn in der Folge zum Rückzug bei der Thematik veranlasst haben könnte.
Kommen wir noch kurz zur Medien- und also auch Selbstkritik. Gerade weil offenbar alles auf Merkels Wiederwahl hinausläuft, konzentrieren sich viele Kommentatoren darauf, die Taktik der Kandidaten zu analysieren. Werden Wahlkämpfe so lange auseinandergenommen, bis von politischen Inhalten nichts mehr übrig bleibt?
Man muss gerade in Wahlkampfzeiten die Strategien der Kandidaten und Parteien in den Blick nehmen; aber auch mir fällt auf, dass diese Ebene momentan sehr im Vordergrund steht. So provozierte Schulz' Vorstoß in der Flüchtlingspolitik vor allem die Frage: Aus welchen taktischen Gründen brachte er dieses Thema gerade jetzt und hat er sich damit ins eigene Fleisch geschnitten? Eine andere Reaktion hätte lauten können: Was genau hat er in der Sache vor? Wie will er das konkret angehen? Wenn man diese Fragen nicht stellt, nimmt man den Wählern die Chance, sich mit dem Wesentlichen, den Inhalten von Politik auseinanderzusetzen.
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Elisabeth Wehling, geboren 1981 in Hamburg, ist Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin an der University of California, Berkeley. Sie erforscht, wie politische Sprache und Ideologien wirken, unter anderem mit Hirnscans. In ihrem Buch Auf leisen Sohlen ins Gehirn (zusammen mit George Lakoff, Carl-Auer-Verlag) zeigt sie die "heimliche Macht" politischer Sprache. Zuletzt erschien von ihr der Bestseller "Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht" (Halem Verlag).