Implant Files:"Die Firmen können neue Produkte nicht ohne Ärzte herstellen"

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"Die Mitgliedsstaaten sollten den Zugang zu diesen wichtigen Informationen garantieren", sagt EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis. (Foto: picture alliance / dpa)

EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis erklärt im Interview, warum der viel kritisierte enge Kontakt zwischen Industrie und Ärzten wichtig ist - und wie Patienten sich informieren können.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Vytenis Andriukaitis arbeitete nach dem Studium als Herzchirurg, nach der Unabhängigkeit Litauens wurde er Gesundheitsminister. Seit 2014 ist er EU-Gesundheitskommissar. Als solcher ist Andriukaitis zwar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständig, die Zertifizierung von Medizinprodukten teilt er sich jedoch mit anderen Stellen.

SZ: Herr Andriukaitis, bevor Sie in die Politik gingen, waren Sie Arzt. Erinnern Sie sich an Ihre letzte Operation?

Vytenis Andriukaitis: Natürlich, das war im März 1993 im Universitätskrankenhaus in Vilnius. Der Moment war sehr besonders und zugleich schmerzhaft für mich. Ich wusste, dass ich meinen Beruf würde aufgeben müssen, denn Litauens neue Verfassung verbot es den Abgeordneten, nebenher zu arbeiten.

Sie waren bei der ersten Herztransplantation dabei , die in Litauen vorgenommen wurde.

Ja, das stimmt. Damals herrschten politisch schwierige Zeiten. In der Sowjetunion hatte Moskau solche Operationen lange verboten. Für uns Mediziner in Litauen war es aber immer wichtig, die Forschung im Rest der Welt zu verfolgen und die neuen Techniken zu erlernen und zu üben. Mit Gorbatschow und der Perestroika wurde das Verbot gekippt, und im Oktober 1987 machten wir die erste Herztransplantation. Dass wir in Vilnius die ersten nach den Chirurgen in Moskau waren, machte uns Litauer sehr stolz. Wir hatten bewiesen, dass wir mit Amerikanern, Deutschen oder Franzosen mithalten konnten.

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Heute sind Sie als EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständig. Wie wichtig sind Medizinprodukte für das moderne Gesundheitssystem?

Ohne Medizinprodukte und neue Technik sind große Fortschritte kaum vorstellbar. Man kann die neuen Produkte nicht von der Forschung an Hochschulen und in Krankenhäusern trennen. Deren Experimente und Testreihen erlauben es Ärzten, Krankheiten wie Herzrhythmusstörungen zielgenauer zu behandeln - mithilfe von Medizinprodukten.

Diese sind für jede Operation nötig: von Skalpellen bis zu speziellen Ventilator-Maschinen. Millionen Europäer haben Herzschrittmacher oder Hüftimplantate in ihren Körpern - und verlassen sich auf sie. Dennoch werden Medizinprodukte in den EU-Ländern nicht von staatlichen Behörden getestet und zertifiziert, sondern von privaten Einrichtung en, in Deutschland etwa TÜV und Dekra, den sogenannten Benannten Stellen. Warum?

Heute ist alles verbunden. Die Firmen können neue Produkte nicht ohne Ärzte herstellen. Es braucht also engen Kontakt. Natürlich ist die Beurteilung dieser Medizinprodukte sehr komplex, die Benannten Stellen stehen wegen der technischen Fortschritte vor Herausforderungen und müssen ihre Leistungsfähigkeit ständig überdenken.

Einem Laien leuchtet es nicht ein, dass Medizinprodukte bei der Zertifizierung anders behandelt werden als Medikamente. Beide sind entscheidend für die Gesundheit von Europäern.

Die Erklärung ist einfach: Es gibt mehr als 500 000 Medizinprodukte. Manche werden von bestimmten Kliniken für ganz spezielle Patienten entwickelt. Da muss manchmal nur ein Einzelteil angepasst werden, und das ist möglich durch engen Kontakt mit den Herstellern. Sie wollen dieses Produkt nicht für den ganzen Binnenmarkt zulassen, sondern vielleicht nur für drei Kliniken. Bei Arzneimitteln ist das anders, die werden von Beginn an für alle 28 EU-Staaten oder den Weltmarkt entwickelt. Für jene Fälle, in denen Hersteller ihr Produkt für den ganzen Binnenmarkt zertifizieren wollen, müssen manche Benannten Stellen gestärkt werden, damit sie die Anträge prüfen und die Freigabe für alle Mitgliedsstaaten genehmigen können.

Kommissarin Elżbieta Bieńkowska , die sich um den Binnenmarkt sowie um kleine und mittlere Unternehmen kümmert, ist in der EU auch für Medizinprodukte zuständig. Wäre es nicht sinnvoller, die Verantwortung im Bereich Gesundheit anzusiedeln? Diese Aufteilung wirkt, als seien die Interessen der Industrie wichtiger als jene der Patienten.

Früher war die Generaldirektion Gesundheit für Medizinprodukte zuständig, aber das wurde 2014 anders geregelt, um den Unternehmen und deren Problemen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Nun arbeiten in Brüssel mehrere Generaldirektionen in dieser Frage zusammen: Neben den Experten für Binnenmarkt und Gesundheit ist auch die Fachabteilung für "gemeinsame Forschung" beteiligt.

Wenn nun die Kommissarin für den Binnenmarkt federführend zuständig ist, warum empfangen Sie dann Lobbyisten, wie etwa die von Medtech Europe im Juni 2018?

Wir haben von Anfang an festgehalten, wo die Zuständigkeiten liegen. Die Generaldirektion Binnenmarkt koordiniert vor allem, um fairen Wettbewerb und Transparenz zu garantieren. Mein Team achtet auf Patientensicherheit und kooperiert eng mit den Benannten Stellen, da gibt es einen ständigen Austausch. Die Kollegen von der gemeinsamen Forschung beurteilen die wissenschaftlichen Methoden. Dank dieser Aufteilung wissen die Hersteller, Krankenhäuser und Benannten Stellen, an wen sie sich wenden müssen.

Sie betonen in Ihren Auftritten oft, wie Sie sich für die Interessen der Patienten in allen 28 Mitgliedsstaaten einsetzen. Wenn ich etwa ein Implantat hätte, dann würde ich gerne zügig und unkompliziert überprüfen können, ob es von Herstellungsfehlern betroffen ist .

Das ist absolut richtig, im heutigen Informationszeitalter ist Transparenz ebenso wichtig wie die richtige Nutzung von Daten. Es braucht ganz klare Regeln, welche Angaben die Hersteller bei der Registrierung machen müssen. Wir haben nun die Datenbank Eudamed eingeführt, die Europäische Datenbank für Medizinprodukte. Das wird die Sicherheit für Patienten deutlich verbessern. Skandale wie jener um die defekten Brustimplantate haben gezeigt, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Eudamed wird uns helfen, die Betroffenen in diesen sehr komplizierten Situationen umfassend zu informieren.

Aber Eudamed ist keine öffentliche Datenbank. Warum kann sich nicht jeder Bürger einfach informieren, egal ob er in Passau, Paris oder in Panevėžys in Litauen lebt? Sollte das nicht das Ziel der Kommission sein?

Das stimmt, und wir wollen künftig dafür werben, dass die zuständigen Behörden den Patienten alle Informationen präsentieren. Eine gesamteuropäische Datenbank kann ich mir nicht vorstellen, dafür ist der Markt zu zersplittert. Aber die Mitgliedsstaaten sollten den Zugang zu diesen wichtigen Informationen garantieren.

In Brüssel hört man, dass manche EU-Mitglieder wie Deutschland versucht haben, die Medizinprodukte-Verordnung zu verwässern und strengere Auflagen zu verhindern.

Ich werde hier kein Urteil über einzelne Mitgliedsstaaten fällen, aber manche waren aktiver als andere.

Im Mai 2019 wird das Europaparlament neu gewählt. Besserer Schutz für Patienten wäre doch etwas, mit dem die Kommission und die Pro-Europäer werben könnten.

Dieses Thema ist wichtig über die Wahlen hinaus. Heutzutage informieren sich die Menschen digital, und über die sozialen Netzwerke verbreiten sich auch falsche Informationen, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben.

Sie kennen sicher jenen Fall, wo Undercover-Journalisten ein Mandarinennetz als Medizinprodukt - ein sogenanntes Vaginalnetz - zertifizieren lassen konnten. Löst das bei Ihnen nicht die Frage aus, ob man die Zertifizierung von Medizinprodukten ändern sollte?

Niemand ist davor geschützt, Fehler zu machen, denn wir leben in einer sehr komplexen Welt. Wichtig ist aber, dass Fehler aufgearbeitet werden und dass dies transparent geschieht.

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