Vorwürfe gegen Czaja:Chronologie des Versagens am Lageso

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Flüchtlinge warten frierend in der Schlange vor dem Lageso. (Foto: REUTERS)

Neue Vorwürfe gegen Berlins CDU-Sozialsenator Czaja: Hat er Warnungen aus dem Lageso ignoriert, gar Flüchtlingsunterkünfte auf Druck von Parteifreunden verhindert?

Von Hannah Beitzer, Berlin

Die Flüchtlingskrise hat uns alle kalt erwischt: So begründen der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und sein Sozialsenator Mario Czaja (CDU), das anhaltende Chaos rund um das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Nun erhebt die Boulevardzeitung B.Z. schwere Vorwürfe gegen den Sozialsenator: Nicht nur habe der schon lange von der sich zuspitzenden Lage gewusst. Er habe auch noch Flüchtlingsheime verhindert - um Parteifreunden einen Gefallen zu tun.

Die B.Z. beruft sich auf eine Reihe von vertraulichen Dokumenten aus dem Lageso, die Czajas Verantwortung für das Chaos beweisen sollen. Bereits 2013 habe Lageso-Chef Franz Allert, der inzwischen von seinem Posten zurückgetreten ist, den Sozialsenator gewarnt, dass es bald knapp werde mit den Flüchtlingsunterkünften in Berlin. Czaja habe darauf allerdings nicht wie gewünscht reagiert, sondern vielmehr mehrere Immobilien für Tabu erklärt, schreibt die Zeitung unter Berufung auf Lageso-Mitarbeiter. Angeblich auf Drängen von CDU-Parteifreunden, die in der Gegend wohnten oder dort ihren Wahlkreis hätten.

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Chronologie von Chaos und Versagen

Auch der Spiegel berichtete von neuen Vorwürfen gegen Sozialsenator Mario Czaja. Demnach habe der Landesrechnungshof dem Sozialsenator und der ihm unterstellten Behörde in einem internen Bericht vorgeworfen, jahrelang rechtswidrige Praktiken bei der Unterbringung geduldet beziehungsweise praktiziert zu haben. "Trotz jahrelanger Kenntnis der steigenden Flüchtlingszahlen hat die zuständige Verwaltung weder auf ministerieller noch auf operativer Ebene die Unterbringung geplant und gesteuert", heißt es dort. Das Magazin zeigt außerdem auf, wie private Unternehmer von Missmanagement und dem Chaos in der Behörde profitierten.

Es sind nicht die ersten Vorwürfe gegen Czaja - der Skandal um das Lageso dauert nun schon mehrere Monate. Eine Chronologie.

November 2014: Verdacht auf Vetternwirtschaft

Bereits im November 2014 geriet das Landesamt für Gesundheit und Soziales anhaltend in die Schlagzeilen. Der Vorwurf: Vetternwirtschaft. Behördenchef Franz Allert soll sein Patenkind Tobias Dohmen, den Geschäftsführer einer Betreiberfirma, bei der Auftragsvergabe für Flüchtlingsheime bevorzugt haben. Ein anderer Betreiber soll zu hohe Baukosten für eine Unterkunft berechnet haben. Schon damals beklagte die Opposition das intransparente Vergabeverfahren. Sozialsenator Czaja kündigte eine Überprüfung an, nahm den Behördenchef aber in Schutz. Die Prüfung bewies dann zwar nicht die konkreten Vorwürfe gegen Allert, wies allerdings auf die intransparente Vergabepraktiken in der Behörde hin.

April 2015: Erneute Vorwürfe von Vetternwirtschaft

Ein knappes halbes Jahr später folgen neue Vorwürfe, diesmal gegen Lageso-Mitarbeiter. Sie sollen dem privaten Betreiber PeWoBe, der wegen mangelnder Qualitätsstandards in der Kritik stand, zu einem Millionendeal verholfen haben. Chef des Unternehmens ist Helmuth Penz, der auch in der aktuellen Spiegel-Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Abermals weist Allert die Vorwürfe zurück. Medien berichten über ein Disziplinarverfahren.

Juni 2015: Zu hohe Rechnungen, doppelte Personalkosten

Eine externe Wirtschaftsprüfung ergibt, dass seitens der kritisierten Unternehmen Gierso und PeWoBe zu hohe Rechnungen gestellt, Personalkosten doppelt abgerechnet worden seien und Verträge unvollständig seien. Lageso-Chef Allert lässt daraufhin Vertragsstrafen verhängen und fordert Geld zurück. Die Rückforderungen sollen mit künftigen Leistungen verrechnet werden. Trotz der massiven Vorwürfe wurde Allert persönlich von den Wirtschaftsprüfern entlastet. Sozialsenator Czaja entzieht Allert daraufhin die Flüchtlingsunterbringung und unterstellt sie einem neuen Referat.

Juli 2015: Flüchtlinge in Hostels

Mehr und mehr Flüchtlinge kommen in die Hauptstadt - und das Lageso kommt mit ihrer Unterbringung nicht mehr hinterher. Die Behörde verteilt zwar Gutscheine, mit denen Flüchtlinge in Hostels übernachten können. Doch bis sie die dazugehörigen Rechnungen begleicht, dauert es lange - so dass viele Hostelbetreiber die Flüchtlinge nicht mehr annehmen wollen. Der Berliner Flüchtlingsrat wirft dem Lageso daraufhin vor, schutzbedürftige Flüchtlinge in die Obdachlosigkeit zu schicken.

August 2015: Die Situation eskaliert

Im August 2015 eskaliert die Situation vor dem Lageso. Bis zu 2500 Flüchtlinge stehen täglich vor der zentralen Erstaufnahmestelle Berlins in sengender Hitze. Viele von ihnen warten Tage auf ihre Registrierung, campieren auf der Straße. Verpflegt und medizinisch versorgt werden sie fast ausschließlich von Freiwilligen, die sich um die Gruppe "Moabit hilft" organisieren. Das wird über Monate so bleiben. Neben Amtsleiter Allert gerät auch Sozialsenator Czaja in die Kritik, der gerade im Urlaub ist.

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Zu dieser Zeit ist bereits in ganz Deutschland von einer "Flüchtlingskrise" die Rede, doch so prekär wie in Berlin ist die Situation nirgends. Vor dem Lageso drängen sich auch am Wochenende die Menschen. Doch die Behörde bleibt außerhalb der Bürozeiten geschlossen. Auch da sind die Ehrenamtlichen gefragt. Eine Veränderung des Schichtmodells der Behörde scheitert am Personalrat. In den folgenden Monaten machen Helfer immer wieder in drastischen Worten auf die Situation aufmerksam.

26. August 2015: Bezirksbürgermeister warnt vor "Desaster"

Der zuständige Bürgermeister des Bezirks Mitte, Christian Hanke (SPD), wirft Sozialsenator Czaja vor, die Situation vor dem Lageso zu unterschätzen. Sie gleiche der in einem "Dritte-Welt-Land". Czaja nehme an wichtigen Sitzungen nicht teil und treffe vor allem nicht die nötigen Entscheidungen, die Situation zu verbessern. Wenig später legt Hanke nach: Das Amt sei " praktisch kollabiert". Die Stimmung vor dem Lageso wird aggressiver, es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und Security, Geflüchtete drohen, sich vom Dach zu stürzen. Gerüchte über die Bestechung von Wachleuten machen die Runde.

15. Oktober 2015: Eine neue Registrierungsstelle eröffnet

Im Oktober sinken die Temperaturen - doch die Wartezeiten vor dem Lageso werden immer länger. Am 15. Oktober eröffnet zwar ein neues Registrierungszentrum in der Hauptstadt, doch die Lage bleibt angespannt. Am 17. Oktober demonstrieren die erschöpften und wütenden Helfer gegen die Flüchtlingspolitik des Senats und die Zustände vor dem Lageso. Dort werden im Herbst zwar Zelte aufgestellt, damit die Flüchtlinge nicht im Freien warten müssen, doch das Chaos bleibt. Nachts dürfen Flüchtlinge erst am 15. Dezember in die Wärmezelte.

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18. Oktober 2015: Landesärztekammer kritisiert "asoziale Zustände"

Der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, bezeichnet die Zustände vor dem Lageso als "asozial". Ihm sei es ein absolutes Rätsel, warum der Senat trotz zahlreicher Appelle immer noch keine Mittel für hauptamtliche Ärzte zur Verfügung stelle, um die Flüchtlinge zu versorgen, sagte Jonitz in der rbb Abendschau. Seit Monaten, so schildern es auch Helfer, kümmern sich ausschließlich Ehrenamtliche um die medizinische Versorgung. Czaja verspricht, dass zukünftig Ärzte der Berliner Charité die Versorgung übernehmen sollen. In Kommentaren ist da längst vom "Katastrophenfall" in Berlin die Rede.

24. Oktober 2015: Gewaltvideo taucht auf

Immer wieder ist die Rede von Reibereien zwischen Flüchtlingen und Security-Mitarbeitern vor dem Lageso. Am 24. Oktober wird dem Berliner Tagesspiegel ein Video zugespielt, das zeigt, wie drei Sicherheitsmänner Flüchtlinge brutal angehen, die eine Absperrung durchbrechen. Es bleibt nicht das einzige Video, das Übergriffe von Security-Männern zeigt. Im November zieht sich die private Betreiberfirma Gegenbauer schließlich nach harten Vorwürfen zurück.

7. Dezember 2015: "Das Chaos gibt es wirklich"

"Das Chaos gibt es wirklich": Mit diesen Worten zitiert der rbb Mitarbeiter des Landesamts für Gesundheit und Soziales. Sie beklagen Personalmangel, totales Desinteresse der Führung und Überforderung. Kurzfristig angeheuertes Personal sei kaum in der Lage, Entlastung für die Beamten zu schaffen. In der neu geschaffenen Registrierungsstelle in der Bundesallee sehe es auch nicht besser aus.

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9. Dezember 2015: Franz Allert tritt zurück

Das Lageso steht inzwischen in ganz Deutschland für politisches und organisatorisches Versagen in der Flüchtlingspolitik, selbst die internationale Presse berichtet entsetzt von den Zuständen. Am 9. Dezember wird der Druck schließlich zu groß. Behördenchef Franz Allert tritt zurück. Allert soll von seinem Rausschmiss über Journalisten erfahren haben. Sein Posten wird nun neu ausgeschrieben, die Behörde außerdem in zwei Ämter aufgeteilt werden.

Hinterher heißt es in Medienberichten, auch Mario Czaja habe kurz vor dem Rausschmiss gestanden. Dass dies bislang nicht geschah, dürfte am Regierenden Bürgermeister Müller liegen, dem es vermutlich um den Erhalt der ohnehin wackeligen großen Koalition geht.

Nun kommt aber erst einmal Weihnachten, das Lageso hat über die Feiertage geschlossen. Und freiwillige Helfer sehen das nächste Chaos schon aufziehen.

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