Vor zehn Jahren schockte ein Türke in Istanbul seine Landsleute mit alten Ansichtskarten. Staunend und stumm standen die Menschen in einer Ausstellung mit Hunderten Karten, die ihr Land abbildeten, so wie sie es zuvor noch nie gesehen hatten: mit armenischen Kirchen und Klöstern, armenischen Handwerkern und Honoratioren. Da erst begriffen viele, was fehlt in ihrem Land und wie gründlich die Erinnerung ausgelöscht wurde.
Nun, im 100. Jahr der Erinnerung an den Völkermord an den osmanischen Armeniern, gibt es ein digitales Geschichtsbuch, ein Archiv der anatolisch-armenischen Alltagsgeschichte im Internet. Dreisprachig: Englisch, Armenisch, Türkisch. Schon dies ist ein Statement.
Gemacht wird www.houshamadyan.org von jungen Armeniern, die Wert darauf legen, dass ihr "Memory Book" nicht als Wunsch nach "Wiedereroberung" einer verlorenen Heimat missverstanden wird. Sie wollen nichts zu tun haben mit radikalen politischen Forderungen, die es in der armenischen Diaspora auch gibt. Im Gegenteil: Sie laden auch Türken und Kurden ein, sich an der "Rekonstruktion" der gemeinsamen anatolischen Geschichte zu beteiligen. Dies ist so außergewöhnlich wie das gesamte Projekt, für das schon im Jahr 2010 ein gemeinnütziger Förderverein gegründet wurde - in Berlin.
Völkermord an den Armeniern:Zum Sterben in die Wüste getrieben
Am 24. April 1915 begann die armenische Katastrophe. Zeitgenössische Bilder zeugen von Vertreibung, Hunger und Tod. Sie sind bis heute ein wichtiger Beweis für den Völkermord.
Weil in Berlin Vahé Tachjian und Silvina Der-Meguerditchian leben. Der Sozialwissenschaftler Tachjian betreut die Inhalte der Seite, Meguerditchian, geboren 1967 in Argentinien, zeichnet für das Design verantwortlich. "In meiner Familie wurde Spanisch, gemixt mit Türkisch und Armenisch gesprochen", erzählt die Künstlerin, deren Familie Wurzeln in Anatolien hat. 2005 war sie erstmals in Istanbul, mit der "Angst der Großeltern" im Kopf. "Alles, was du siehst, was du tust, der Duft, das Licht", alles war erzählte Erinnerung, und damit Quelle von Verstörung. Dann sah sie eben jene Postkartenausstellung des Türken Osman Köker. "Das hat mich sehr berührt", sagt Meguerditchian.
Ohne die alten Karten von Köker gäbe es also wohl auch nicht das Erinnerungsbuch im Web, dessen Umfang stetig wächst, gefüttert von privaten Nachlässen, Zufallsfunden, wissenschaftlicher Forschung. Armenier lebten vor ihrer Vertreibung im Osmanischen Reich in etwa 3 000 Siedlungen, kleinen Dörfern wie großen Städten. Entsprechend reichhaltig und vielfältig sind die kulturellen Zeugnisse, von der Architektur christlicher Sakralbauten bis zum Liedgut. Es gibt Fotos, Filme, Familienalben, Musikaufnahmen.
Dokumentiert wird auch die Alltagskultur. Kinderspiele wie Kochrezepte, medizinische Hausmittelchen und Hochzeitsbräuche in einer konservativen Gesellschaft, in der Paare sich vor der Eheschließung nicht in die Augen sehen durften. Ob Christen oder Muslime, so unterschiedlich waren die Kulturen einst gar nicht.
Wie sähe die Türkei heute aus, hätte sie noch große christliche Minderheiten, eine armenische und eine griechische? Sie wäre ein anderes Land. Houshamadyan ist ein digitales Denkmal für einen großen verlorenen Schatz.