Irland:Der Regierungschef kann nicht mehr

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2017 wurde Leo Varadkar mit damals 38 Jahren der jüngste irische Regierungschef der Geschichte, zudem der erste offen homosexuelle. (Foto: Elizabeth Frantz/Reuters)

Leo Varadkar tritt überraschend zurück, Dublin sucht einen neuen "Taoiseach". Die Gründe sind rätselhaft. Liegt es an einem Referendum zu Frauenrechten?

Von Michael Neudecker, London

Gerüchte, dass eine größere Veränderung bevorstehe, kamen erstmals am Mittwochmorgen im irischen Parlament in Dublin auf. Die irischen Parlamentsreporter rechneten allerdings eher mit einer Veränderung in einem der größeren Ministerien, ehe gegen Mittag die Nachricht publik wurde, dass die Position ganz oben betroffen ist, an der Spitze der Regierung: Leo Varadkar, seit Dezember 2022 in zweiter Amtszeit irischer Taoiseach, wie der Regierungschef in Dublin genannt wird, tritt zurück. Die Reaktionen, die danach aus Dublin über die britischen Medien verbreitet wurden, enthielten vor allem zwei zentrale Worte: "überrascht" und "schockiert".

Varadkar ist 2017 - nach zehn Jahren als Abgeordneter und sechs Jahren in mehreren Ministerämtern - zum Chef seiner Partei Fine Gael und damit auch zum Taoiseach gewählt worden, nachdem sein Vorgänger Enda Kenny zurückgetreten war. Varadkar war mit damals 38 Jahren der jüngste irische Regierungschef der Geschichte, außerdem der erste irische und weltweit fünfte offen homosexuelle Regierungschef. Bei den Wahlen 2020 verlor Fine Gael zwar die Mehrheit, allerdings nicht den Regierungsvorsitz: Fianna Fáil gewann die Wahlen knapp vor Sinn Féin und Varadkars Fine Gael. Die Regierungsbildung verläuft nach Wahlen in Irland ähnlich wie in Deutschland, das heißt: ähnlich komplex.

Zwei Parteien teilen sich in Dublin gerade die Amtszeit des Regierungschefs

Fianna Fáil wollte damals nicht mit Sinn Féin - der Partei, die aus der militanten IRA in Nordirland hervorgegangen war - koalieren, weshalb Fianna Fáil, Fine Gael und die Grünen die neue Regierung bildeten. Eine zentrale Vereinbarung der Koalition lautete, dass sich Fianna Fáil und Fine Gael die Amtszeit des Regierungschefs in der Legislaturperiode teilen. Zunächst wurde Micheál Martin von Fianna Fáil neuer Taoiseach, ehe Varadkar im Dezember 2022 wieder übernahm.

Er trete aus "persönlichen und politischen Gründen" zurück, auch als Parteivorsitzender von Fine Gael, sagte Varadkar bei einer Pressekonferenz am Mittwochnachmittag. Er verstehe, dass einige von der Entscheidung "überrascht, vielleicht auch enttäuscht" seien, aber er habe das Gefühl, "nicht mehr die richtige Person für diesen Job" zu sein. "Politiker sind Menschen, und wir geben alles in diesem Job, bis wir nicht mehr können", sagte Varadkar in einer für ihn ungewöhnlich emotionalen Art.

Am Dienstagabend hatte er den stellvertretenden Regierungschef Michéal Martin über seinen Entschluss informiert, "natürlich war ich überrascht", sagte Martin am Mittwoch. Gleichzeitig betonte Martin: "Dies ist eine Koalition aus drei Parteien, nicht drei Personen."

Varadkars Rücktritt löst nicht automatisch eine Neuwahl aus, stattdessen wird seine Partei Fine Gael in den kommenden Wochen einen Nachfolger bestimmen. Bis dahin bleibt Varadkar im Amt. Die nächsten Wahlen in Irland finden spätestens im Frühjahr 2025 statt. Allerdings forderte Sinn-Féin-Chefin Mary Lou McDonald am Mittwoch Neuwahlen: "Die Entscheidung, wer dieses Land führt, muss den Wählern überlassen werden", sagte McDonald im Dáil, dem irischen Parlament. Sinn Féin führt derzeit in den Umfragen klar vor Fine Gael und Fianna Fáil.

Auch wegen einer Wohnungsnot stand Varadkar zuletzt unter Druck

Varadkar war zuletzt wegen eines Referendums über Frauenrechte stark in die Kritik geraten. Seine Regierung wollte in zwei Fällen sexistische Formulierungen aus der Verfassung löschen oder durch andere ersetzen, allerdings waren die neuen Vorschläge so umstritten, dass die Iren am Ende mit 67,7 Prozent im einen und 73,9 Prozent im anderen Fall mit "Nein" stimmten - das höchste "Nein"-Ergebnis, dass es je bei einem Referendum in Irland gab. In Dublin galt dies nicht zuletzt als persönliche Niederlage für Varadkar. Auch wegen einer "Housing Crisis" steht Varadkar unter Druck, Irland kämpft seit Längerem mit einer Wohnungsnot. Im Dezember vergangenen Jahres kam es gar zu Ausschreitungen in Dublin.

Warum Varadkar, der erst vor ein paar Tagen von einem Besuch bei US-Präsident Joe Biden zurückgekehrt war, gerade jetzt zurücktritt, darüber rätselten am Mittwoch mehrere Beobachter und Abgeordnete in Dublin. "Es gibt nie den richtigen Zeitpunkt für so etwas", sagte Varadkar, und deshalb sei dieser Zeitpunkt "so gut wie jeder andere". Er werde weiterhin als Abgeordneter für Dublin West im Parlament bleiben und wisse, dass nun "über die sogenannten ,echten Gründe' spekuliert werden wird", aber es gebe nichts, das er verheimliche. Welche "persönlichen und politischen" Gründe nun genau hinter seinem unerwarteten Entschluss stecken, ließ Varadkar aber zumindest am Mittwoch offen.

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