Karlsruher Urteile sind häufig ein Segen für Demokratie und Rechtsstaat. Dieses Urteil nicht. Es ist eine Katastrophe, eine Katastrophe für die parlamentarische Demokratie in Europa. Es legt sich wie ein dunkler Schatten auf die Europawahl am 25. Mai.
Drei Monate vorher sagt das Bundesverfassungsgericht nämlich: Das Europaparlament ist gar kein richtiges Parlament, es heißt nur so, es tut nur so. Karlsruhe degradiert das Europaparlament zu einem Parlament zweiter Klasse, zu einem Debattierclub, zu einer europäischen Versammlung ohne legislatives Gewicht. Es missachtet die neuen Rechte und die neuen Kompetenzen, die dieses Parlament erhalten hat.
Die bevorstehende Europawahl ist die erste auf der Grundlage des Lissabon-Vertrages, der dem Europaparlament die Macht gibt, den Präsidenten der EU-Kommission zu bestimmen. Das Verfassungsgericht (genauer gesagt die Mehrheit seiner Richter) sagt: Ist uns doch egal.
Karlsruhe verweigert die Anerkennung
Es betrachtet das Europaparlament so, wie es einmal war - und nicht so, wie es ist und sein soll. Karlsruhe hat in der Vergangenheit immer wieder wunderbar auf die Rechte des Bundestags geachtet und diese Rechte in vielen Entscheidungen gestärkt. Dem Europaparlament gilt diese Fürsorge nicht.
Karlsruhe könnte dem Parlament in Straßburg und Brüssel die Anerkennung zukommen lassen, die es dem Bundestag in Berlin zuteilwerden lässt. Aber Karlsruhe weigert sich. Karlsruhe wartet, bis dieses Europaparlament so ist, wie es sich ein gutes Parlament vorstellt. Doch Karlsruhe trägt nichts dazu bei, dass es einmal dazu kommt. Karlsruhe mauert sich ein im schwarz-rot-goldenen Turm; es zieht dort dieses Mal nicht einmal die Fahne mit den zwölf Sternen auf. Es sagt nur: Wir warten auf künftige Entwicklungen.
Das höchste deutsche Gericht hat mit ähnlichen Argumenten, auf deren Grundlage es im November 2011 die Fünf-Prozent-Klausel für die Europawahl kippte, nun auch die Drei-Prozent-Klausel gekippt: Dieses Europäische Parlament sei ja ohnehin ein Kuddelmuddel, ein Konglomerat von so vielen Parteien, da komme es auf ein paar mehr auch nicht mehr an. Diese Bewertung, diese Abwertung steht hinter den Darlegungen des Verfassungsgerichts.
Die "Egalität der Bürger", also jeder einzelnen Stimme, ist den Richtern wichtiger als der Impetus, im Europaparlament eine Institution zu sehen, die den Parlamentarismus in Europa verbessert. Deshalb öffnet das Bundesverfassungsgericht nun das Europäische Parlament für jede deutsche Kleinpartei. Die Kleinparteien haben gesiegt. Gesiegt hat eine sehr puristische Auslegung des Grundsatzes von der Gleichheit der Wahl. Verloren hat die Arbeitsfähigkeit dieses Parlaments - also das Parlament insgesamt.
Kein Schutz vor Zergliederung
Die gegenwärtig 766 Parlamentssitze verteilen sich auf derzeit sieben Fraktionen: Europäische Volkspartei, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne, Europäische Konservative, Euroskeptiker sowie Linke. 31 fraktionslose Abgeordnete kommen hinzu. Es werden nun erheblich mehr werden.
Den Schutz vor zu starker Zergliederung der politischen Kräfte, den das Verfassungsgericht dem Bundestag mit einer Fünf-Prozent-Klausel zubilligt, verweigert es dem Europaparlament komplett. Eine "Funktionsbeeinträchtigung" sei dort nicht zu befürchten - weil sich die Klein- und Kleinstparteien den großen Fraktionen anschließen könnten. Das ist Spekulation. Niemand weiß, ob das funktioniert, auch das Verfassungsgericht in Karlsruhe weiß das nicht.
Wenn jeder Staat es bei der Europawahl so halten würde, wie es das Bundesverfassungsgericht nun für Deutschland vorschreibt - diese erste und einzige direkt gewählte supranationale Institution wäre am Ende. Das Parlament würde zum Rummelplatz.
Gewiss: Es wäre gut, wenn es ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit hoher demokratischer Qualität gäbe. Die Macht, ein solches zu verordnen, hat das Bundesverfassungsgericht nicht. Wenn es das Europaparlament so schwächt, wie es das nun getan hat, trägt es aber nicht dazu bei, dass es jemals so weit kommt.