Richard Leon ist ein Freund klarer Worte und seit 2002 Bundesrichter in der US-Hauptstadt Washington. Er hat nun das erste Urteil zur massenhaften Sammlung von Telefon-Metadaten des US-Geheimdienstes NSA gesprochen. Der Tenor ist ebenso klar wie spektakulär: Das Treiben der NSA verstößt für Richter Leon gegen die amerikanische Verfassung, weil es die im vierten Verfassungszusatz garantierte Privatsphäre der US-Bürger verletze.
Da die Regierung in Berufung gehen wird, ist die Entscheidung noch nicht rechtskräftig, doch sie könnte ein entscheidender Schritt zur besseren Kontrolle der US-Geheimdienste werden. "Ich kann mir keinen wahlloseren und willkürlicheren Eingriff vorstellen als diese systematische und hoch technisierte Sammlung und Speicherung von Daten praktisch jeden Bürgers, um sie ohne richterliche Genehmigung zu durchsuchen und zu analysieren", schreibt er in seiner 68-seitigen Begründung (hier als PDF). Eines ist aber klar: Richter Leon kümmert sich nur um die Rechte der Amerikaner, der Rest der Welt kümmert ihn nicht.
Das Ausmaß der Überwachung durch die NSA erinnere ihn an George Orwell und dessen Dystopie "1984", so der 64-Jährige weiter. Dass Leon vom Republikaner George W. Bush zum Bundesrichter ernannt wurde, macht die Sache für Barack Obama noch brisanter. Detailliert nimmt er die drei wichtigsten Argumente der US-Geheimdienste sowie der Regierungen von Bush und Obama auseinander:
- Notwendigkeit der Terrorabwehr: Der Ausbau des US-Spionageapparats ist eine Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001. Dass sich seitdem kein zweites 9/11 ereignet habe, belegt für Befürworter dessen Effektivität. Richter Leon ist nicht überzeugt: "Die Regierung konnte kein einziges Beispiel nennen, wo die NSA-Aktivitäten geholfen haben, einen drohenden Anschlag zu verhindern." Pikant: Wie Emily Bazelon im Online-Magazin Slate anmerkt, verrät eine Fußnote des Urteils, dass die Obama-Regierung auf das Angebot des Bundesrichters verzichtet hatte, ihm "vertraulich" Belege zu präsentieren, die nicht öffentlich geworden wären.
- Angemessenheit des Programms: Präsident Obama hat mehrfach betont, dass es nicht möglich sei, "100 Prozent Sicherheit mit 100 Prozent Privatsphäre" zu verbinden. An sich stimme die Balance aber. Dies sieht Richter Leon anders: Das Programm zur "telephony metadata" erlaube der NSA, von einer verdächtigen Telefonnummer aus "drei Sprünge" (three hops) zu unternehmen. Das heißt: Es werden nicht nur jene Nummern gespeichert, die von diesem Telefon aus angewählt und angerufen wurden, sondern auch alle, die mit diesen verbunden sind. Bürgerrechtler haben berechnet, dass es bei 40 Kontakten ermöglich sei, 2,5 Millionen Menschen zu erfassen. Wie ausufernd die NSA-Sammelwut ist, illustriert der praktisch denkende Jurist am Beispiel der New Yorker Pizza-Firma "Domino's": Diese Nummer werde von Zehntausenden gewählt, wodurch die Zahl der zu Überwachenden immer weiter steige (mehr zum Domino's-Argument im Blog des New Yorker).
- Rechtmäßigkeit der Aktivitäten: Ständig haben Republikaner und Demokraten betont, dass die Aktionen der Agenten rechtmäßig seien. Dies wurde nicht nur mit dem nach 9/11 erlassenen Patriot Act begründet, sondern auch mit einem Urteil aus dem Jahr 1979. In Smith v. Maryland wurde entschieden, dass die Bürger kein ausgeprägtes Recht auf Privatsphäre bei jenen Daten haben, die sie an eine dritte Partei (in diesem Fall den Telefonanbieter) weitergeben. Richter Leon hält das für unzeitgemäß: In den vergangenen 34 Jahren sei die Nutzung von Telefonen enorm angewachsen, weshalb die Menschen heute "größere Erwartungen" an den Schutz ihrer Privatsphäre hätten. Über diese Interpretation lässt sich freilich streiten.
Die Klarheit des Urteils von Bundesrichter Leon löste bei liberalen Amerikanern und Kritikern des NSA-Programms Begeisterung aus. Der demokratische Senator Ron Wyden lobte Leons Bemerkung, wonach James Madison "entsetzt" über die Praktiken der NSA wäre - schließlich gilt Madison als "Vater der Verfassung" und ist einer der founders, die gerade von konservativen Amerikaner verehrt werden.
Journalist Glenn Greenwald, der eng mit Edward Snowden zusammenarbeitet und dessen Freude über Leons Urteil verbreitete, hofft nun, dass der 30-Jährige in seiner Heimat nicht länger von vielen als Verräter angesehen werde, sondern als Whistleblower, der dem Land etwas Gutes getan habe.
Wegen des "signifikanten nationalen Sicherheitsinteresses in diesem Fall" und da er überzeugt ist, dass die Obama-Regierung Einspruch einlegen werde, hat Bundesrichter Leon sein Urteil ausgesetzt. Die NSA muss ihre Datensammelei also vorerst nicht einstellen. Das Justizministerium hat nun "mindestens sechs Monate" Zeit für eine Stellungnahme.