Unterhaus:Die schwierige Wahl der Briten

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Wird es bald einen Umzug geben in Downing Street Nr. 10, dem Sitz des britischen Premiers? Oder wird hinter dieser Tür auch weiterhin David Cameron residieren? Der Ausgang der Wahl ist völlig offen. (Foto: AFP)

Die Wahl in Großbritannien gilt als die engste seit Jahrzehnten. Was passiert, wenn keine Partei eine Mehrheit erreicht? Was bedeutet der Wahlausgang für die Zukunft des Landes in der EU? Und wer kommt als Königsmacher in Frage?

Von Kathrin Haimerl und Markus C. Schulte von Drach

Der Ausgang der Wahlen zum britischen Unterhaus war wohl noch nie so ungewiss: Die großen Parteien, Conservative Party und Labour Party, liegen im Wettbewerb um die Wählerstimmen etwa gleichauf. Doch selbst eine Mehrheit der Stimmen landesweit muss keinen Sieg bedeuten. Es kommt auf die Wahlkreise an. Und auch die Bedeutung der kleineren Parteien wird dieses Mal so groß wie nie zuvor sein.

Weit entfernt von klaren Verhältnissen: Ed Miliband mit seiner Frau (links) und der amtiere Premier David Cameron (mit Ehefrau), jeweils vor ihrer Stimmabgabe (Foto: Reuters/Bloomberg)

Was passiert, wenn es keine klare Mehrheit gibt?

In der Vergangenheit war die britische Regierungsbildung denkbar einfach. Die Partei, die die Mehrheit der Parlamentssitze holt, stellt den Premier. Die unterlegene Partei geht in die Opposition. Das Mehrheitswahlrecht ist darauf ausgelegt, klare Verhältnisse zu schaffen. Das hat auch immer gut geklappt, mal trugen die Tories einen eindeutigen Sieg davon, mal die Labour Party. Bis zur Wahl 2010: Da trotzten die Briten allen mathematischen Regeln ihres Mehrheitswahlrechts, weder Tories noch Labour erreichten eine absolute Mehrheit. David Cameron musste mit den Liberaldemokraten (Libdems) eine Koalitionsregierung gründen, die erste in Großbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Vor fünf Jahren wurde das noch als Anomalie beschrieben. Doch auch jetzt dürfte es zu einem hung parliament kommen - und damit zu kontinentaleuropäischen Verhältnissen auf der Insel. Die Konservativen liegen in Umfragen zwar ganz knapp vorne. Cameron dürfte aber trotzdem nicht weiterregieren können, weil die Liberaldemokraten, kurz Libdems, zu schwach sind. Die Labour Party könnte zwar mit Hilfe der schottischen Nationalisten ganz knapp die nötige Zahl der Sitze erreichen. Doch ein Premier, dessen Partei nicht zumindest eine relative Mehrheit im Unterhaus erlangt, hat in Großbritannien ein Glaubwürdigkeitsproblem. Es gibt drei Möglichkeiten, das hung parliament aufzulösen: mit Hilfe einer Koalition, einer Minderheitsregierung - und durch Neuwahlen, wenn die Verhandlungen zwischen den Parteien scheitern.

Welche Rolle spielen die "marginal seats"?

Es gibt 650 Wahlkreise in Großbritannien, in denen die 650 Sitze im Parlament in Westminster vergeben werden. In den Wahlkreisen gilt das Prinzip: Winner takes all bzw. first past the post: Die meisten Wahlkreise sind fest in der Hand einer Partei. Der Wahlkampf konzentriert sich deshalb auf die Wechselwähler in den Wahlkreisen, die nicht als klassische Hochburg einer Partei gelten: die marginal seats ( hier ein Überblick über die Wahlkreise, in denen es für die Parteien eng wird). Das US-amerikanische Pendant dieser marginal seats wären die swing states. Eine feste Definition, ab wann ein Wahlkreis als solcher einzuordnen ist, gibt es nicht. Einfacher ist die umgekehrte Herangehensweise: Die Erfahrung in den vergangenen Wahlen hat gezeigt, dass die meisten Wahlkreise in der Hand der jeweils dominierenden Partei bleiben. Kleineren Parteien gibt das britische Wahlsystem kaum eine Chance. Der Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereinen kann, gewinnt den Sitz. Die restlichen Stimmen gelten als verloren. Dies führt bisweilen zu absurden Verzerrungen: In Umfragen liegen zum Beispiel Grüne und Libdems ziemlich gleich auf. Trotzdem dürften die Libdems im künftigen Unterhaus mit 25 bis 30 Sitzen vertreten sein, während die Grünen nur hoffen können, dass sie zu ihrem bisherigen Wahlkreis einen weiteren hinzugewinnen zu können.

Welche kleinen Parteien kommen als Königsmacher in Frage?

Liberaldemokraten: Die Libdems unter ihrem Vorsitzenden Nick Clegg haben Großbritannien in den vergangenen fünf Jahren bereits gemeinsam mit den Tories regiert. Der Partei ist die Wirtschaftspolitik wichtig, allerdings ist sie gegen massive Kürzungen von Sozialausgaben. Und im Gegensatz zu Konservativen und Labour wollen sie die Steuern sogar leicht anheben. Auf dem Programm stehen außerdem Bürgerrechte und Naturschutz. Die LibDems werden vermutlich mit bis zu 30 Sitzen ein wichtiger möglicher Koalitionspartner für beide großen Parteien. Sie haben sich aber auf kein Bündnis festgelegt. Allerdings lehnen sie eine Zusammenarbeit mit der schottischen SNP strikt ab. Auch eine Zusammenarbeit mit der rechtspopulistischen Ukip ist kaum vorstellbar. Es dürfte also sowohl für die Tories als auch für Labour schwierig werden, eine Regierungskoalition aus drei Parteien zu schmieden.

Schottische Nationalpartei (SNP): Im vergangenen Jahr scheiterte die Partei mit ihrem Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands knapp. Nun könnte sie im Londoner Parlament drittstärktste Partei werden. Die Partei tritt zwar nur in den 59 schottischen Wahlkreisen an, doch die Auguren trauen ihr zu, etwa 50 Sitze davon zu gewinnen - bisher waren es sechs. Die Partei erscheint mit ihrer sozialdemokratischen Ausrichtung als naheliegender Partner der Labour Party - wenn da nicht diese Unabhängigkeitsbestrebungen wären. Außerdem geht der Erfolg der SNP auf Kosten von Labour, denn bislang haben die Schotten traditionell eher Labour gewählt. Das dürfte sich nun ändern und könnte am Ende den Kandidaten der Tories zum Sieg verhelfen. Labour-Chef Ed Miliband hat jedenfalls eine Zusammenarbeit bereits strikt ausgeschlossen. Mit den Konservativen dagegen will wiederum die SNP nicht koalieren.

Abstimmung in Großbritannien
:#ivoted - Briten rufen Briten zur Wahl auf

Viele junge Menschen wählen in Großbritannien traditionell nicht. Das versuchen einige zu ändern. Über Twitter fordern sie ihre Mitbürger auf, sich an der heutigen Abstimmung für das Unterhaus zu beteiligen - sogar aus Mexiko.

United Kingdom Independence Party (Ukip): Bei den Europawahlen erzielte die Partei der Euroskeptiker einen beachtlichen Erfolg. Bei den Unterhauswahlen war dies bislang anders. Und auch jetzt dürfte sie nur auf etwa drei Abgeordnete kommen, selbst wenn sie den Umfragen zufolge mit 13 Prozent der Stimmen rechnen darf. Diese Verzerrung ist dem Mehrheitswahlsystem geschuldet. Wenn die Konservativen über eine Zusammenarbeit mit der Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage nachdenken sollten - die LibDems, auf deren Unterstützung die Tories angewiesen sein dürften, würden da kaum mitmachen.

Democratic Unionist Party (DUP): Die nordirische Partei, die vom protestantischen Pfarrer und Populisten Ian Paisley gegründet wurde, kann mit etwa acht Sitzen rechnen. Die EU-skeptische DUP wäre ein denkbarer Partner der Konservativen - oder einer Koalition zwischen Tories und LibDems. Ob die Liberaldemokraten sich einem solchen Bündnis anschließen würden, ist allerdings fraglich. Die DUP selbst schließt auch eine Zusammenarbeit mit Labour nicht aus.

Plaid Cymru: Die walisische Partei ist sozialdemokratisch orientiert und setzt sich vor allem für eine Verbesserung der Verhältnisse in Wales ein. Der Landesteil gehört zu den ärmsten in der EU. Die Partei konnte nach der vergangenen Wahl drei Abgeordnete ins Unterhaus schicken. Gelingt ihr dies erneut, könnte sie die Labour Party unterstützen. Denkbar ist auch eine Minderheitsregierung mit Duldung der Waliser.

Green Party of England and Wales: Für die Grünen saß bislang eine Abgeordnete im Parlament. In Umfragen liegen sie momentan etwa gleich auf mit dem LibDems, doch aufgrund des Wahlsystems werden sie auch künftig wohl nicht viel mehr als ein oder zwei Abgeordnete ins Unterhaus schicken können. Auch die Grünen machen den Labour-Kandidaten Konkurrenz, weshalb diese befürchten, dass davon in manchen "marginal seats" die Konservativen profitieren könnten.

Was bedeutet der Wahlausgang für Großbritanniens Zukunft in der EU?

Wenn die Konservativen die Wahl gewinnen, könnte das gravierende Folgen haben. Die Partei sprang während des Wahlkampfes auf die europaskeptische Stimmung im Land auf und ging damit auf Wählerwerbung. Parteichef David Cameron zeigte in der Vergangenheit wiederholt selbst deutlich, dass ihm die Folgen, die die Politik der EU für Großbritannien hat, nicht gefallen. Sollte Cameron Premierminister bleiben, werden die Briten in zwei Jahren in einem Referendum über ihre EU-Mitgliedschaft abstimmen. Bis dahin will sich Cameron für Reformen innerhalb der EU einsetzen - zum Vorteil Großbritanniens natürlich. Dann, so Camerons Argumentation, würden die Briten auch für einen Verbleib stimmen. Der Premier steht unter dem Druck EU-skeptischer Parteimitglieder in seinen Reihen. Einige davon sind bereits zur Ukip gewechselt, zwei davon sitzen seit 2014 als Abgeordnete im Unterhaus. Die Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage fordert ein sofortiges Referendum über den Verbleib der Briten in der EU. Und sie würde sogar eine Minderheitsregierung der Tories unterstützen, wenn diese ihrer Forderung nachkämen.

Zu den Wahlversprechen von Labour-Parteichef Ed Miliband gehört zwar, dass er für eine führende britische Rolle in der EU sorgen werde. Ein Referendum über einen britischen EU-Austritt, genannt Brexit, werde es unter Labour aber sehr wahrscheinlich nicht geben, kündigte Miliband an. Eine solche Abstimmung gefährde seiner Meinung nach Jobs und die Wirtschaft in Großbritannien. Auch bei einem Wahlsieg von Labour werden die Briten versuchen, ihre wirtschaftlichen Interessen in der EU stärker durchzusetzen.

Wer sind die Spitzenkandidaten?

David Cameron ist seit 2010 Premierminister von Großbritannien. Er wurde 1966 in London geboren. Er studierte Philosophie, Politik und Wirtschaft in Oxford. Er war Berater unter Margaret Thatcher und John Major. Seit 2001 sitzt er für die Tories im Unterhaus. 2005 wurde er zum Vorsitzenden der Conservative Party gewählt. Er bezeichnet sich selbst als "modernen, mitfühlenden Konservativen".

Labour-Chef Edward "Ed" Miliband, 1969 in London geboren, ist seit 2005 Abgeordneter im Unterhaus. 2006 wurde der Wirtschaftswissenschaftler Staatssekretär in der Regierung von Premier Tony Blair, dann Minister für Energie und Klimawandel im Kabinett von Gordon Brown. Seit 2010 ist er Vorsitzender der Labour Party. Er gilt in der Partei als eher links.

Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP), wurde 1970 in Irvine, Schottland, geboren. Bereits mit 16 Jahren trat sie in die SNP ein. 1999 zog die Rechtswissenschaftlerin ins Schottische Parlament ein. Nach den Schottischen Parlamentswahlen 2007 wurde sie Gesundheitsministerin. Seit 2014 ist sie Vorsitzende der SNP.

Nick Clegg kam 1967 in Chalfont St Giles zur Welt. Seit 2007 ist er Chef der Liberal Democrats (LibDems), seit 2010 Vize-Premierminister. Clegg studierte Archäologie, Anthropologie und Philosophie und arbeitete unter anderem für die Europäische Kommission. Von 1999 bis 2004 war er Abgeordneter im Europaparlament. Seit 2005 sitzt er im Unterhaus.

Nigel Farage, geboren 1964 in Farnborough, war Mitglied der Tories, die er jedoch bereits 1992 verließ, um die rechtspopulistische Ukip mitzugründen. Seit 1999 sitzt er im Europäischen Parlament. Zum fünften Mal versucht Farage dieses Jahr, ins Unterhaus zu gelangen. Für den Fall eines Scheiterns hat er seinen Rückzug angekündigt.

Peter Robinson, geboren 1948 in Belfast, ist seit 1971 Mitglied der Democratic Unionist Party (DUP). 1979 zog er als Abgeordneter ins Unterhaus in London ein. 2007 wurde er Minister für Finanzen in der neuen Regierung von Nordirland. Von 2008 bis 2010 war er Erster Minister des Landes.

Caroline Lucas ist seit 2010 die erste und bislang einzige Abgeordnete der Grünen im Unterhaus. Von 2008 bis 2010 war sie Vorsitzende ihrer Partei. Sie hat in Anglistik und Frauenforschung ihren Doktor gemacht, von 1999 bis 2010 saß sie im Europäischen Parlament.

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