Alles und jedes versucht die EU zu regulieren, von der Form landwirtschaftlicher Gewächse bis zur Größe von Kondomen. Sogar bis unter die Dusche verfolgt uns die Europäische Kommission.
Diesen Eindruck jedenfall vermitteln viele ihrer Kritiker. Häufig ist die Rede von einer "Regulierungswut" des Beamtenapparates in Brüssel oder einem "Bürokratie-Irrsinn". Und ein Blick auf die unzähligen, schwer verständlichen Gesetzestexte scheint das jederzeit zu bestätigen.
Doch wenn Politiker sich so äußern, dann ist das schlicht Heuchelei. Denn es ist zwar die Europäische Kommission, die Richtlinien und Verordnungen ausarbeitet. Doch dahinter stecken nicht nur EU-Beamte, die sich zu profilieren versuchen, indem sie die Bürger bevormunden. Die Initiativen kommen meist von den Politikern und Interessenverbänden in den Mitgliedsstaaten.
Einige der am häufigsten zitierten Beispiele zeigen, wie sehr die Kritiker übertreiben, schlicht die Unwahrheit sagen oder nicht begriffen haben, was - oder vielmehr wer - hinter dem Wust an Vorschriften steckt, die unser Leben angeblich so umfassend fremdbestimmen.
Zu doof, um Leitern aufzustellen?
Gern wird mit süffisantem Ton die Richtlinie 2001/45/EG zitiert: "Leitern sind so aufzustellen, dass sie während der Benutzung standsicher sind." Glauben die Brüsseler Bürokraten, es wäre den Bürgern unbekannt, dass Leitern umfallen können?
Gar nicht so absurd klingt der Satz allerdings im Gesamtzusammenhang. Dann wird klar, dass es in der Richtline um den Gesundheitsschutz von Arbeitnehmern geht. Diese Vorschrift soll sie vor gefährlichen Arbeitsbedingungen bewahren. Sollte es also nicht möglich sein, eine Leiter absolut sicher aufzustellen, kann es der Arbeitgeber niemanden zumuten, trotzdem hinaufzusteigen.
Wer behauptet, Brüssel würde vorschreiben, wie krumm eine Banane in der EU zu sein hätte, hat sich schlecht informiert. Tatsächlich gibt es Qualitätsstandards, die dafür sorgen sollen, dass den Verbrauchern keine minderwertige Ware untergejubelt werden kann. Vorschriften wie die Mindestlänge von 14 Zentimetern und eine Dicke von 2,7 Zentimetern klingen zwar schräg. Aber solche Standards dienen dazu, dass die Ware vergleichbar bleibt und die Kunden wissen, was sie bekommen.
Ähnliche Regeln gab und gibt es in der EU auch für andere Obst- und Gemüsesorten. Allerdings hatten viele Mitgliedsländer sowieso solche Vorgaben entwickelt, genau wie die Vereinten Nationen und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ( OECD). Die Idee solcher Verordnungen stammt also nicht aus Brüssel, sondern wurde nur zur Vereinheitlichung für die EU übernommen.
Eine Krümmungsvorschrift gab es allerdings tatsächlich. Die betraf aber Gurken, die diesbezüglich eine größere Variation zeigen als Bananen. Von 1988 bis 2009 gehörten nur Gurken mit einer maximalen Krümmung von einem Zentimeter auf zehn Zentimeter Länge in die Klasse "Extra" - einer von insgesamt vier Handelsklassen. Die Regel basierte auf einem Wunsch des Handels - ebenfalls keine Brüsseler Idee.
Die Gurken sind ein Beispiel dafür, dass die Verordnungen für einige Gruppen vorteilhaft sein und zugleich aber große Nachteile haben können. So waren viele Gurken, weil sie nicht als Qualitätsprodukte verkauft werden konnten, und die Verarbeitung zu Einlegegurken aufwendig ist, gleich auf dem Kompost gelandet.
Sollten Hersteller von landwirtschaftlichen Fahrzeugen nicht selbst herausfinden können, auf welchem Sitz der Bauer bequem und sicher sitzt? Bis 2012 waren Traktorensitze normiert - dann beschloss das EU-Parlament, die Vorschrift abzuschaffen. Da Traktorensitze heute die Anforderungen der bisherigen Richtlinie im Allgemeinen mindestens erfüllten, sei diese überflüssig, begründete das EU-Parlament die Entscheidung.
Auf den Seiten des Europäischen Parlaments ist ein Dokument zu finden, das die Entstehungsgeschichte der Vorschrift erzählt. Tatsächlich stammt die Vorschrift aus dem Jahre 1978 und ging auf einen Vorstoß aus Bayern zurück. Dort hatte sich ein Landwirt beim Sturz vom Trecker verletzt. Seine Versicherung zahlte ihm jedoch nichts, weil das ausländische Fahrzeug einen Sitz besaß, der den deutschen Vorschriften nicht entsprach. Um solche Probleme zu vermeiden, forderte Bayern eine EU-weite Regelung, die im Rat der Europäischen Union tatsächlich beschlossen wurde.
Nachdem die Vorschriften für Traktorensitze inzwischen nicht mehr gelten, könnten sich die Kritiker jetzt anderen Vorschriften widmen, zum Beispiel den geplanten Regelungen zu Autokindersitzen. Womöglich kommt es jedoch nicht nur den Herstellern, sondern auch den Verbrauchern sogar entgegen, wenn die Vorschriften einheitlich sind.
Als besonders absurd gilt unter Kritikern der EU-Bürokratie die Richtlinie zu Seilbahnen für den Personenverkehr. Vor dem Jahr 2000 gab es in der EU für die Konstruktionen von Seilbahnen in den einzelnen Staaten unterschiedliche Regelungen, so dass neue Fahrzeuge in den Ländern verschiedene Ansprüche zu erfüllen hatten. Nach einigen schweren Seilbahnunglücken kam der Wunsch nach EU-weiten Sicherheitsstandards auf, die dann in der Richtlinie 2000/9/EG festgelegt wurden.
Die Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht fällt in Deutschland in die Kompetenz der Bundesländer. Deshalb mussten nicht nur Länder wie Bayern, sondern auch Städte wie Berlin, Hamburg und Bremen sowie etwa Mecklenburg-Vorpommern, wo man vergeblich nach Bergen sucht, Seilbahngesetze verabschieden. Verantwortlich war also nicht die EU, sondern die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland.
Ziemlich sinnlos erschien der Zwang zum Seilbahngesetz für die Niederlande. Doch das änderte sich 2012, als eine Seilbahn auf der internationalen Gartenschau Floridae in Venlo in Betrieb genommen wurde, die nun alle Sicherheitsstandards der EU-Richtlinie erfüllt.
Mit Sprüchen wie "Die Kommission hat unter der Dusche nichts zu suchen" greift Markus Ferber, der CSU-Spitzenkandidat bei dieser Europawahl, die Ökodesign-Richtlinie der EU-Kommission an. "Was kommt als Nächstes? Das Verbot von Badewannen?" Auch Martin Schulz, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, stellte kürzlich die Frage, wieso die Kommission den Energieverbrauch von Duschköpfen oder Wasserhähnen regeln müsse.
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Dabei erlässt die Ökodesign-Richtlinie, die seit 2005 existiert und seit 2009 auch für "energieverbrauchsrelevante" Produkte gilt, gar keine Vorschriften. Auf ihrer Grundlage können diese für verschiedene Produkte erlassen werden. Und angesichts des Klimawandels ist es auch keine schlechte Idee, den Energieverbrauch zu senken. Mit diesem Ziel wurden Mindestanforderungen für energieintensive Geräte wie Kühlschränke oder Fernseher festgelegt. Auch die Glühbirne wurde deshalb verboten.
Die berüchtigte "Kommission unter der Dusche" bezieht sich darauf, dass die EU-Kommission prüfen lässt, ob für wasserverbrauchende Geräte eine Kennzeichnungspflicht oder Effizienzvorgaben eingeführt werden sollten. Aber ob es zu neuen Vorschriften kommt, wird erst entschieden, nachdem die Mitgliedsstaaten, Unternehmen und Umweltorganisationen sich darüber ausgetauscht haben. Dann entwickelt die Kommission Vorschriften, die das Europaparlament prüft.
Die Ökodesign-Richtlinie hat auf diesem Wege bereits dazu geführt, dass etwa neue Staubsauger in Zukunft nicht mehr so viel Strom verbrauchen dürfen - ohne dass deshalb die Saugleistung zurückgehen und der Preis steigen soll. Trotzdem schimpfte der EU-Parlamentarier Herbert Reul (CDU) in der Bild-Zeitung darüber: "Die Verbotswut der Kommission muss dringend gebremst werden."
Ein weiteres Ziel der Energiesparmaßnahmen sollen zum Beispiel die Warmhalteplatten von Filterkaffeemaschinen sein. "Wer glaubt, das Weltklima wird durch ein Verbot von Warmhalteplatten gerettet, hat die wahren Probleme Europas nicht verstanden!", kommentierte Markus Ferber von der CSU.
Doch die Ökodesign-Richtlinien zielen nicht nur auf den Umweltschutz. Sie unterstützen auch die Möglichkeiten der Unternehmen, in Europa untereinander in Wettbewerb zu treten. Und Innovationen, die Energiesparmaßnahmen ermöglichen, können zudem den Verbrauchern Kosten ersparen.
2010 gab es heftige Proteste gegen die Richtlinie 2004/24/EG zur "Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel hinsichtlich traditioneller pflanzlicher Arzneimittel". Angeblich, so verkündeten viele Anhänger alternativer Heilverfahren, wollte die EU damit Heilpflanzen verbieten. Eine Petition an den Bundestag forderte, dies zu verhindern. Fast 120 000 Menschen unterzeichneten.
Doch die Richtlinie war nicht nur bereits 2004 verabschiedet worden. Sie ermöglicht darüber hinaus, dass traditionelle pflanzliche Arzneimittel in der EU in einem vereinfachten Verfahren zugelassen werden. Und gerade in Deutschland hatten auch vor der EU-Richtlinie bereits entsprechende Regulierungen existiert. Doch die Überzeugung vieler Menschen, dass die EU-Bürokraten ganz im Dienste von Lobbyisten etwa der Pharmaindustrie stehen, war offenbar so groß, dass sie die Fehlinformationen bereitwilligt glaubten.
Dabei hat sich die EU bestimmten paramedizinischen Verfahren gegenüber bislang sehr entgegenkommend gezeigt. Homöopathische und anthroposophische Mittel sowie Heilpflanzen können in der EU als Arzneimittel registriert werden, ohne dass ein Wirksamkeitsnachweis erbracht wurde.
Das regulierte Kondom
Eines der häufig genannten Beispiele für kuriose, lächerliche oder irrwitzige Verordnungen ist die Größenvorgabe zu Kondomen. Allerdings schreibt die EU Männern zur Verhütung keine bestimmten Kondome vor, sondern empfiehlt lediglich eine Länge von mindestens 16 Zentimetern und einem Durchmesser von 4,4 Zentimetern und einer Wandstärke von 0,04 Millimetern. Die Zahlen stammen vom Europäischen Komitee für Normung (CEN), einem Zusammenschluss europäischer Wirtschaftsunternehmen, und wurde von der EU 1993 in die Anordnungen über medizinische Vorrichtungen übernommen. Die Normen sollen helfen, hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards zu erfüllen.
Dekolleté-Verbot für Kellnerinnen
Die EU hat Mindestanforderungen für den Schutz der Arbeitnehmer vor Strahlung aufgestellt. Ursprünglich sollte es dabei neben der künstlichen - also etwa radioaktiven - Strahlung auch um natürliche Sonnenstrahlung gehen. Geplant waren feste Grenzwerte. Konkrete Maßnahmen sollten nicht vorgeschrieben werden, aber die Arbeitgeber sollten darauf achten, dass Haut und Augen ihrer Angestellten ausreichend geschützt sind.
Trotzdem gingen Gerüchte um, die EU wollte Kellnerinnen verbieten, ausgeschnittene Blusen zu tragen, und Bauarbeiter würden ihre T-Shirts nicht mehr ausziehen. Aufgrund von Widerständen verschiedener Wirtschaftsverbände wurde der Hinweis auf die natürliche Strahlung gestrichen. Die Richtlinie bezieht sich also nur noch auf künstliche Strahlung.
Lärmkontrolle in Opernhäusern
Müssen Konzertbesucher fürchten, dass EU-Kontrolleure Aufführungen verhindern, weil die Musik zu laut ist? Das Gerücht entstand bereits, als bekannt wurde, dass das Europäische Parlament 2002 Lärmschutzmaßnahmen am Arbeitsplatz diskutierte. Tatsächlich hat Deutschland 2008 die EU-Richtlinie zum Lärmschutz aus dem Jahre 2003 auf den Musik- und Unterhaltungssektor ausgeweitet. Damit soll die Gesundheit der Musiker geschützt werden. Für Orchester bedeutet dies, dass die Mitglieder gegebenenfalls durch Schallschutzmaßnahmen in Proberäumen und Orchestergräben geschützt werden. Schon das Umsetzen der Musiker kann hier manchmal Abhilfe schaffen.
High-Heel-Verbot für Friseusen?
Verschiedene Medien wie die Bild-Zeitung berichteten 2012, die EU würde Friseurinnen das Tragen von Stöckelschuhen und Schmuck verbieten wollen. Tatsächlich hatten sich zwei Verbände, die Gewerkschaft Uni Europa Hair & Beauty und der Arbeitgeberverband Coiffure EU, auf ein Abkommen über die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz geeinigt. Forderungen der Verbände waren unter anderem, dass Friseure bei der Arbeit rutschfeste Schuhe tragen und Schmuck aus hygienischen Gründen ablegen sollten. Aufgabe der Europäischen Kommision wäre es lediglich gewesen, zu prüfen, ob dem Europäischen Rat entsprechende Richtlinien empfohlen werden sollten. Und das blockte Kommissionspräsident José Manuel Barroso ab.