Umberto Eco ist eben aus Paris in sein Mailänder Büro zurückgekehrt. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat den italienischen Schriftsteller, Philosophen und Semiotik-Professor dort zum "Commandeur" der Ehrenlegion erhoben. Genau in den Stunden, als die Schlacht um Frankreichs Rating tobte. "Schön", meint Eco, "dass Sarkozy trotzdem dabei war."
Eco fand es auch aufregend, in Griechenland das Großkreuz des Dodekanes verliehen zu bekommen. Es wird in der Grotte von Patmos überreicht, wo der Heilige Johannes die Offenbarung der Apokalypse geschrieben haben soll. Eco erzählt das und lacht dabei. Wenn das Treppensteigen ihn anstrengt, dann lacht er auch und sagt: "Wir sind doch nicht mehr siebzig, mein Freund." 80 Jahre alt ist er gerade geworden.
Einer der Vorzüge Europas sei, so sagt Eco, dass er Geburtstagsgrüße vom deutschen Bundespräsidenten und vom spanischen Ministerpräsidenten bekomme. Vor seinem Fenster steht, furchteinflößend, der Riesenbau des Castello Sforzesco und erinnert mit seinen Mauern und Zinnen an die Kriege des Kontinents. "Inzwischen hat die Kultur aus uns, die wir lange nur Brudermörder in den Kriegen waren, Europäer gemacht", sagt Eco.
It´s the culture, stupid
Von Wirtschaft habe er keine Ahnung, gibt der Schriftsteller zu. "Aber wir dürfen angesichts der Schuldenkrise nicht vergessen, dass uns außer den Kriegen nur die Kultur verbindet." Jahrhundertelang hätten Franzosen, Deutsche, Spanier und Engländer einander ohne Vorwarnung erschossen. "Frieden haben wir seit weniger als 70 Jahren, und keiner denkt mehr an dieses Meisterwerk. Sich einen Krieg zwischen Spanien und Frankreich oder Italien und Deutschland vorzustellen, das sorgt heute nur für Heiterkeit." Die Vereinigten Staaten von Amerika, sagt Eco, hätten den Bürgerkrieg gebraucht, um sich wirklich zu vereinen. "Ich hoffe, bei uns genügen dafür Kultur und Markt."
Im Jahr 2000 hatte der deutsche Außenminister Joschka Fischer an der Berliner Humboldt-Universität den Euro zum politischen Projekt erklärt. Anders gesagt: Ohne europäische Integration fehlt der gemeinsamen Währung das Fundament. An Joschka Fischer denkt Eco, während er seinen Espresso trinkt und von den postmodernen Kapseln mit Kaffeepulver schwärmt.
Seine deutsche Frau Renate Ramge Eco dagegen verteidigt das traditionelle italienische Kännchen, in dem man Caffè auf der Gasflamme kocht. "Die europäische Identität ist im Jahre 2012 weit verbreitet", sagt Eco, "aber shallow." Eco verwendet das englische Wort für oberflächlich. "Wir müssen diese Identität einwurzeln, ehe die Krise sie ganz kaputtmacht."
"Die Identität ist oberflächlich"
Wirtschaftszeitungen schrieben zu wenig über das Studienaustauschprogramm Erasmus, findet Eco, "dabei hat Erasmus die erste Generation junger Europäer geschaffen." Er nennt den Austausch eine "sexuelle Revolution": Ein junger Katalane trifft eine Flämin, sie verlieben sich, heiraten und werden Europäer, und genauso ihre Kinder. Eine Weile in anderen EU-Ländern zu leben und sich zu integrieren, das sollte nicht nur für Studenten vorgeschrieben sein, wenn es nach Eco geht, sondern auch für Taxifahrer, Installateure, Arbeiter. Er hat seine Idee vom Erasmus-Jahr für Handwerker und Berufstätige schon einmal auf einer Konferenz von Bürgermeistern aus ganz Europa vorgetragen.
Doch statt des Austauschs und des Stolzes auf Europa dominieren überall, ob in deutschen Massenblättern oder in den populistischen Parteien Finnlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs, der Populismus und die Feindseligkeit gegen andere Mitgliedsländer. "Deshalb ist die Identität oberflächlich."
Eco erinnert daran, dass Europas Gründerväter - Adenauer, De Gasperi, Monnet - weniger gereist sind. Sie hatten auch kein Internet, um regelmäßig die ausländische Presse zu lesen. De Gasperi sprach Deutsch nur, weil er in der k. u. k.-Monarchie geboren wurde. "Ihr Europa war eine Reaktion auf den Krieg, sie hatten gemeinsam die Fähigkeit, Frieden aufzubauen. Heute müssen wir an einer Identität arbeiten, die tiefer geht."
Wie schwach die gemeinsame Identität ist, sei schon vor der Schuldenkrise sichtbar geworden, als der Entwurf der Europäischen Verfassung in Volksabstimmungen abgeschmettert wurde. Dies sei ein von Politikern verfasstes Dokument gewesen, zu dem die Kulturwelt nichts beitragen durfte. Abstrakt und nie mit den Bürgern diskutiert - wie beim Entwurf der Euro-Banknoten. Die Geldscheine zeigen nicht die Bildnisse großer Europäerinnen und Europäer, sondern kalte Panoramen, wie Bilder von De Chirico.
Damals, Papst Johannes Paul II. lebte noch, stritt man auch heftig, ob in einer EU-Verfassung die christlichen Wurzeln des Kontinents betont werden sollten. "Die säkulare Ansicht setzte sich durch, das ist so hingenommen worden, unter Protest der Kirche. Es hätte jedoch einen dritten Weg gegeben", sagt Eco. Einen schwierigeren. "Aber heute würde er uns stärken. Nämlich, in der Verfassung alle unsere Wurzeln zu erwähnen. Die griechisch-römischen, die jüdischen, die christlichen. Venus gehört zu unserer Geschichte wie das Kruzifix. Genauso die nordischen Gottheiten, an die wir im südlichen Europa mit dem Weihnachtsbaum erinnern oder mit den vielen Lucia-Festen, dem Heiligen Nikolaus und dem Weihnachtsmann." Wer Angst habe vor einer starken Identität, suche sich eine schwache, ist Eco überzeugt. "Amerika ist religiöser als Europa, das stimmt. Nur, bei uns gehen die Leute nicht in die Kirche, sie verfallen in Aberglauben."
Der lange europäische Bürgerkrieg
Eco denkt viel über das nach, was der britische Historiker Geoffrey Barraclough "den langen europäischen Bürgerkrieg" nannte: die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Fall der Berliner Mauer. Sie habe eine tiefe Teilung bewirkt, der erst die EU und der Euro ein Ende gesetzt hätten. "Es braucht viel Zeit und Geduld, damit dieser Schnitt heilt."
Kürzlich widersprach Eco im britischen Fernsehen einem Moderator, der wegen der Euro-Krise vor einem supranationalen Europa warnte und die technischen Regierungen von Lukas Papadimos in Griechenland und Mario Monti in Italien undemokratisch nannte. "In allen Demokratien gibt es nicht gewählte Institutionen", erwiderte Eco. Das britische Königshaus, den amerikanischen Supreme Court. "Aber niemand kommt auf die Idee, ihre Rechtmäßigkeit zu bestreiten."
Eco ist ein Erforscher der Massenkulturen, er ist Autor von Werken für wenige Auserwählte und von Bestsellern wie "Der Name der Rose" und "Der Friedhof von Prag". Eco ist überzeugt, der globale Markt mache, trotz aller Mängel, Kriege weniger wahrscheinlich, selbst zwischen den USA und China. Andererseits glaubt er nicht, dass es jemals die Vereinigten Staaten von Europa geben wird, als ein Land mit einer Sprache. "Wir haben zu viele Kulturen und Sprachen."
Dass das Mailänder Gespräch mit ihm in Zeitungsbeilagen in sechs Ländern der EU erscheint, gefällt Eco. "Eine gemeinsame europäische Tageszeitung ist ja noch Utopie." Über das Internet komme man ja heute auch mit Sprachen in Kontakt, die man nicht verstehe. "Wir können vielleicht nicht Russisch lesen, aber wir gehen auf russische Sites. Wir sind uns der anderen Stimmen und Sprachen zumindest bewusst. Lissabon ist nicht weiter entfernt von Warschau als San Francisco von New York", sagt Eco und fügt hinzu: "Wir werden doch ein Zusammenschluss bleiben, unauflöslich."
Große Männer stiften Identität
Was also sollten die Euro-Scheine abbilden? Umberto Eco schlägt vor: Fritz Lang und Claude Chabrol, einen deutschen Regisseur und einen französischen. Und auf den italienischen Banknoten kann er sich Roberto Rossellini vorstellen. Oder Bilder des Films "Die Legende vom Ozeanpianisten" von Giuseppe Tornatore. Auch Honoré de Balzac, der Meisterwerke schrieb über Schulden und die Finanzwelt, oder Thomas Mann und seine "Buddenbrooks" eigneten sich als Symbol für Europas Identität.
Umberto Eco fällt Pierre Bayard ein, der französische Psychoanalytiker und Autor des Werkes "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat". Eco meint: "Wir alle kennen auch Bücher, die wir nie gelesen haben. Und wir tragen Reflexe von Kulturen in uns, die wir nicht kennen. Damit wird sich die europäische Identität allmählich vertiefen."