Sanktionen:Tödliche Grüße aus dem Westen

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Russlands Waffen funktionieren auch dank illegal exportierter Chips und Halbleiter aus dem Westen: Gesammelter Raketenreste in Charkiw in der Ukraine. (Foto: Libkos/AP)

Die Strafmaßnahmen gegen Russland zeigen zwar Wirkung: Russland hat Milliarden verloren. Aber zugleich gelingt es Moskau immer besser, sich sanktionierte Güter auf Umwegen zu beschaffen - zum Beispiel für Drohnen und Raketen.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Zwei Dutzend Seiten voller Zahlen und Grafiken hat Wladyslaw Wlasjuk nach Brüssel mitgebracht. Zusammengenommen erzählen sie, was die westlichen Wirtschaftssanktionen für Russland bedeuten. 100 Milliarden Dollar habe Moskau verloren, steht da, weil es wegen der Strafmaßnahmen gezwungen sei, sein Öl billiger zu verkaufen. 40 Milliarden Dollar an Einnahmen fehlten, weil Russland den Export von Gas über Pipelines nach Westeuropa drastisch reduziert habe. 44 Prozent habe der Rubel seit dem vergangenen Herbst an Wert eingebüßt. 300 Milliarden Dollar, die der russischen Zentralbank gehören, seien eingefroren. "Es gibt gute Nachrichten", sagt Wlasjuk, der Sanktionskoordinator des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij.

Trotzdem geht Russlands Krieg gegen die Ukraine weiter. Das Ziel, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Einlenken zu bewegen oder wenigstens seine Wirtschaft so zu ruinieren, dass er sich die Invasion des Nachbarlandes nicht mehr leisten kann, haben weder die USA noch die EU mit ihren bisher elf Sanktionspaketen erreicht. In Brüssel trafen sich daher diese Woche die Sanktionsbeauftragten der Staaten, die die Ukraine unterstützen, um über weitere Strafmaßnahmen zu beraten.

In Spanien und Belgien legen immer noch russische Tanker mit flüssigem Erdgas an

Die ukrainische Regierung hat dazu klare Ideen. Die EU müsse zum Beispiel umgehend ein vollständiges Importverbot für russisches Flüssigerdgas - kurz: LNG für liquefied natural gas - verhängen, fordert Wlasjuk. Denn während die Menge an russischem Gas, das durch Pipelines nach Westen strömt, seit dem Beginn der Invasion stark gefallen ist, ist der Export von LNG nach Europa um 40 Prozent gestiegen. In Spanien und Belgien legen immer noch russische Tanker mit dem flüssigen Energieträger an. "Wenn die EU unabhängig von russischer Energie werden will, dann ist es falsch, dass einzelne EU-Länder russisches Flüssigerdgas kaufen", sagt Wlasjuk.

Mit Sorge sehen die Ukrainer zudem, dass Russland es schafft, sich sanktionierte Güter auf Umwegen zu beschaffen. Das ist auch in den Augen der EU ein ernstes und wachsendes Problem. So gelingt es Moskau offenbar, von westlichen Firmen hergestellte elektronische Bauteile zu importieren, deren Export nach Russland verboten ist, und diese dann in Waffen wie Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern zu verbauen. Das geht, weil die Elektronikteile über Drittländer wie die Türkei geliefert würden, sagt Wlasjuk.

Wie ernst dieses Problem ist, zeigen Zahlen, die Wlasjuk seinen Kollegen in Brüssel vorlegte. Demnach hat der Import sogenannter kritischer Komponenten für Waffen inzwischen wieder das Niveau der Vorkriegszeit erreicht. Den ukrainischen Daten zufolge gab Russland im Jahr vor dem Überfall im Durchschnitt 824 Millionen Dollar pro Monat für solche Bauteile aus - zum Beispiel Halbleiter oder Computerchips, die Raketen steuern. Im Dezember 2021, acht Wochen vor Kriegsbeginn, waren es knapp 1,7 Milliarden Dollar. Im Sommer 2022 ging das Importvolumen zunächst stark zurück, stieg danach aber wieder. Von Januar bis Juli 2023 lagen die Ausgaben für den Einkauf kritischer Komponenten bei durchschnittlich 798 Millionen Dollar pro Monat.

Die militärische Folge: Russland kann immer noch selbst moderne Waffen in großer Menge produzieren. Die Raketen und Drohnen, mit denen die russische Armee seit Wochen die ukrainischen Getreidehäfen am Schwarzen Meer beschieße, seien alle erst in den vergangenen Monaten in Russland hergestellt worden, so Wlasjuk.

Unter den Firmen, deren Produkte unter Umgehung der Sanktionen nach Russland geschleust werden, sind nach Erkenntnissen der Ukrainer alle führenden westlichen Unternehmen: amerikanische Konzerne wie Intel, Analog Devices, AMD, IBM, Texas Instruments und Dell, aber auch europäische wie ST Microelectronics und Infineon. Die chinesischen Elektronikkonzerne Huawei und Lenovo stehen ebenfalls auf der Liste der Ukrainer. Daneben beschuldigt Kiew die deutschen Firmen Salamander, Leica Microsystems sowie die Spinner-Werkzeugmaschinenfabrik, die Russland-Sanktionen zu umgehen.

Die EU will ein neues, ihr zwölftes Sanktionspaket gegen Russland schnüren

Die EU denkt seit Monaten darüber nach, wie sich die Schlupflöcher in ihrem Sanktionsregime stopfen lassen. Es ist zwar kein Problem, in Europa ansässigen Firmen den direkten Export nach Russland zu verbieten. Doch zu verhindern, dass ein Computerchip aus der EU über einen oder mehrere Zwischenhändler in der Türkei, am Persischen Golf oder in Zentralasien nach Russland gelangt, ist ungleich schwieriger. Um solche Handelsketten abzuklemmen, müsste die EU im Notfall wohl auch gegen Drittländer oder ausländische Firmen Sanktionen verhängen. Das ist rechtlich möglich, aber politisch extrem heikel. So nahm die EU bei den Verhandlungen über das elfte Russland-Sanktionspaket einige chinesische Firmen, die Militärausrüstung nach Russland geliefert haben sollen, wieder von ihrer Strafliste. Die Furcht, Peking zu verärgern und noch näher an Moskau zu drängen, war in Brüssel zu groß. Ähnlich sieht es im Falle der Türkei oder der Vereinigten Arabischen Emirate aus, beides Länder, die eine wichtige Rolle bei der Umgehung der EU-Sanktionen spielen.

Der EU ist allerdings klar, dass sie ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland schnüren muss - das zwölfte. Die Gespräche darüber beginnen in Brüssel gerade. Die gute Nachricht für die Ukraine: Vermutlich wird das seit Langem von Kiew geforderte Importverbot für russische Diamanten endlich Realität. Die schlechte Nachricht: Nicht einmal Polen, bisher einer der stärksten Unterstützer der Ukraine in der EU, fordert derzeit ein Embargo gegen russisches LNG. In einem Vorschlagspapier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, heißt es nur, dass Europa den Import von LPG - liquefied petroleum gas - verbieten solle, also von flüssigem Gas wie Propan oder Butan. Damit betreibt man unter anderem Campingkocher.

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