Mutmaßliche Völkerrechtsverstöße:Ukraine wirft Russland Verschleppung von Zivilisten vor

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Immer wieder wird von russischen Angriffen auf zivile Ziele berichtet. Am 20. März wurde dabei ein Einkaufszentrum in Kiew völlig zerstört. (Foto: Fadel Senna/AFP)

Belege präsentiert Kiew zunächst nicht. Auch am 28. Tag des Krieges bleibt die Situation unübersichtlich - und die humanitäre Lage wird offenbar immer dramatischer.

Von Andrea Bachstein, München

Die Regeln des Kriegsvölkerrechts zum Schutz von Zivilisten, die das russische Militär in der Ukraine verletzt, lassen sich an fast jedem Tag des Krieges durchdeklinieren. Nun erhebt die ukrainische Seite noch einen schweren Vorwurf: Das russische Militär verschleppe Zivilisten. Sogar von Tausenden Deportierten sprach Maripols Bürgermeister schon Ende vergangene Woche, unter anderem Menschen aus einem großen Schutzraum der Stadt.

Die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments schrieb nun am Dienstag auf Facebook: "Frauen und Kinder werden massenhaft aus den Gebieten der Regionen Donezk und Luhansk abgeschoben", so Ljudmyla Denissowa zur Lage im Osten des Landes. Es würden "Frauen, Kinder, alte Leute" durchsucht, man nehme ihnen die ukrainischen Dokumente und Telefone ab, "und sie werden in grenznahe russische Gebiete geschickt". Dort bringe man sie in "Konzentrationslagern" unter und siedele sie anschließend innerhalb Russlands um. Belege hat Denissowa allerdings nicht vorgelegt - genau wie Moskau für seine Version, viele Ukrainer, etwa in Mariupol, warteten darauf, über Fluchtkorridore nach Russland gebracht zu werden. Russische Nachrichtenagenturen hatten auch schon gemeldet, in großer Zahl seien Menschen aus den besetzten Gebieten und aus Mariupol bereits nach Russland gekommen, das Busse gestellt habe, von Evakuierung war die Rede.

Ukrainisches Tagebuch (XIV)
:Wir sind nicht bereit, uns zu ergeben

Immer wieder heißt es, das wäre doch die einfachste Lösung, den Krieg zu beenden. Leider verstehen diese Stimmen nicht, worum es der ukrainischen Nation geht.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij äußerte unterdessen weitere Vorwürfe - russische Soldaten hätten einen humanitären Konvoi festgesetzt und ukrainische Rettungskräfte gefangenen genommen. Ausführlicher hatte die Ministerin für die "Wiedereingliederung der zeitweise besetzten Gebiete", Iryna Wereschtschuk, das im ukrainischen Fernsehen geschildert: Der Konvoi mit Bussen und Katastrophenhelfer sei bei Manhusch in der Nähe Mariupols von Kämpfern der selbsternannten Volksrepublik Donzek gekapert worden, obwohl alles über das Rote Kreuz vereinbart gewesen sei.

Wieder waren Fluchtkorridore vereinbart - aber keiner für das belagerte Mariupol

Fluchtkorridore waren für auch Mittwoch vereinbart, neun sollten es sein, allerdings keiner für das belagerte und schwer angegriffene Mariupol, wo noch etwa 100 000 Menschen sein sollen. Es werde versucht, über diese Wege Zivilisten in Sicherheit zu bringen, sagte Ministerin Wereschtschuk. Für die Bewohner von Mariupol stünden Transportmöglichkeiten in Berdjansk bereit, rund 85 Kilometer entfernt. Die ukrainische Seite teilte mit, auch zum belagerten Isjum gebe es keine Verbindung mehr. Alle Bitten um Fluchtkorridore habe Russland abgelehnt. Und in Cherson würden Lebensmittel und Medizinprodukte knapp. Durch die Blockade stünden die 300 000 Einwohner "vor einer humanitären Katastrophe", twitterte ein Sprecher des Außenministeriums in Kiew.

Zu den Verhandlungen mit Russland sagte Selenskij in der Nacht zum Mittwoch in einem Video, sie seien "sehr schwierig, manchmal skandalös, aber wir bewegen uns Schritt für Schritt vorwärts". Unterhändler seien täglich im Einsatz.

Die militärische Lage insgesamt blieb auch am 28. Tag des Krieges unübersichtlich, die Angaben beider Seiten sind nicht unabhängig überprüfbar. Für die Region Luhansk wurde eine Waffenruhe vereinbart. Ob sie eingehalten wurde, war zunächst nicht bekannt. In der Nacht, berichteten ukrainische Quellen, habe es weitere Angriffe auf Charkiw im Osten und Riwne im Nordwesten gegeben. Man habe ein Waffen- und Ausrüstungslager nahe Riwne zerstört, teilte das russische Verteidigungsministerium dazu mit, es sei von See mit Langstreckenwaffen beschossen worden.

Der Generalstab der Ukraine wiederum meldete, seine Kräfte hätten nach einem Gegenangriff wieder "die Flagge gehisst" in Makariw etwa 60 Kilometer westlich der Hauptstadt Kiew. Auch das US-Verteidigungsministerium geht davon aus, dass der russische Vormarsch auf die Hauptstadt nicht vorankommt. Es teilte mit, die Ukrainer hätten Versuche der Russen, nach Kiew vorzudringen, östlich in 30 Kilometer Entfernung von der Stadt gestoppt, nordwestlich in 15 Kilometern. Man geht auch davon aus, dass die Ukrainer etwas mehr in die Offensive gehen: Pentagon-Sprecher John Kirby sagte, man sehe vor allem im Süden, dass das ukrainische Militär versuche, bei Gegenangriffen Gelände zurückzugewinnen. Es sei klar, dass die Russen viele oder fast alle ihrer Ziele nicht erreicht hätten.

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