Ukrainisches Tagebuch (XIV):Wir sind nicht bereit, uns zu ergeben

Ukrainisches Tagebuch (XIV): Ihre eigene Katze ist kulinarisch weniger verwöhnt: Oxana Matiychuk.

Ihre eigene Katze ist kulinarisch weniger verwöhnt: Oxana Matiychuk.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Immer wieder heißt es, das wäre doch die einfachste Lösung, den Krieg zu beenden. Leider verstehen diese Stimmen nicht, worum es der ukrainischen Nation geht.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Der griechische Generalkonsul, einer der letzten Diplomaten, die Mariupol verlassen haben, sagt vor laufenden Kameras: "What I saw I hope no one will ever see ... Mariupol will become part of a list of cities that were completely destroyed by war." Ich hoffe, er wird einst als Zeuge vor dem Internationalen Strafgerichtshof aussagen. Ich fürchte jedoch, dass Mariupol nicht die einzige Stadt der Ukraine bleibt, die dem Boden gleichgemacht wird. Der Bürgermeister von Tschernihiw berichtet von der komplett zerstörten Infrastruktur. Charkiw wird täglich bombardiert. Kleinere Orte, deren Namen viele erst im Krieg erfuhren, werden von der Landkarte verschwinden. Und das ist leider keine Übertreibung.

Tausende verlorene Menschenleben hört sich erst einmal wie eine Statistik an, das ist in der Kriegszeit immer so. Mit jedem Leben wird eine Lebenswelt ausgelöscht. Das ist leicht hingeschrieben. Ich glaube, mein Verstand und meine Psyche schalten gewisse Schutzmechanismen an. Meinen Kolleginnen und Kollegen geht es auch so. Sonst würde man zusammenbrechen. Vielleicht kommt das auch noch, später. Und ja, wir nehmen auch Meinungen aus dem deutschsprachigen Raum (wahrscheinlich gibt es sie auch sonst wo) wahr, die besagen: Dem Krieg ein Ende zu setzen, wäre eigentlich ganz einfach, die Ukrainer sollten sich doch ergeben. Manche Stimmen meinen, die Ukrainer hätten sogar die "Pflicht", sich zu ergeben. Im Klartext heißt das: Die Ukrainer haben die Pflicht, sich zu ergeben, damit die restlichen Europäer endlich nicht mehr mit diesen lästigen Schreckensnachrichten und Horrorszenarien vom Dritten Weltkrieg konfrontiert werden. Das Morden an den Zivilisten würde dann aufhören. Weil man, na ja, im Zweifelsfall doch lieber rot als tot sein sollte. Ich verstehe diese Stimmen, die Hintergründe sind mir bekannt, und das meine ich nicht ironisch, sondern absolut ernst. Es sind gut gemeinte Ratschläge. Nur: Leider verstehen diese Stimmen nicht, worum es uns, der ukrainischen politischen Nation, geht.

Ich würde lieber auch daran glauben wollen, dass ein Sich-Ergeben dem Grauen ein Ende setzen würde.

Dieser Krieg reicht in Wirklichkeit nicht in die 1990er-Jahre, sondern ins Jahr 1654 und noch weiter zurück. Stellen sich diejenigen, die uns gut gemeinte Ratschläge erteilen, auch ernsthaft die Frage, was ein Danach bedeuten würde? Wenn man also nicht tot ist, aber endlich aufgehört hat, Widerstand zu leisten? Und die Europäer hinter der Westgrenze der Ukraine erleichtert aufatmen? (Es gibt zwar keine Garantie, dass der Krieg an der Westgrenze der Ukraine dann tatsächlich aufhören würde, aber man ist geneigt, darauf zu vertrauen.) Bitte glaubt nicht, dass ich besserwisserisch und absichtlich dramatisiere. Ich würde lieber auch daran glauben wollen, dass ein Sich-Ergeben dem Grauen ein Ende setzen würde. Leider weiß ich als Ukrainerin, die in der UdSSR geboren und sozialisiert wurde, die von der Grausamkeit des repressiven Systems nicht nur aus Büchern erfahren konnte, die sich später viel mit der Geschichte und Literaturgeschichte auseinandersetzte, dass die ganze Beschwörung des Friedens durch Verhandlungen oder "Sich-Ergeben" einen Effekt haben kann wie etwa schamanische Rituale bei der Krebsbekämpfung (letztere könnten eventuell sogar mehr bewirken). Deswegen muss ich leider in aller Kürze feststellen: Wir sind nicht bereit, uns zu ergeben. Bitte glaubt nicht, liebe Deutsche, dass es mir leicht fällt, dies hinzuschreiben - angesichts der stündlich sterbenden Menschen, Tiere und einstürzenden Gebäude.

Bitte glaubt nicht, dass wir nicht die enorme Last der moralischen und ethischen Dilemmata spüren. Präsident Selenskij sagte vor einigen Tagen, es gibt "keine militärische Lösung" für Mariupol, was bedeutet, dass die ukrainischen Streitkräfte den russischen Besatzern dort nicht viel entgegensetzen können. Die Kapitulation der Stadt wird aber abgelehnt. Also sind Tausende, die die Stadt nicht verlassen können, dem grausamen Schicksal preisgegeben. Und ich weiß es sehr wohl, dass Tausende Einwohnerinnen und Einwohner dieser Stadt nicht einen Heldentod sterben wollten. Dulce et decorum est pro patria mori - Es ist süß und ehrenvoll, für die Heimat zu sterben klingt erhaben für Legionäre, nicht aber für die zivile Bevölkerung einer modernen südlichen Industriestadt. Ich möchte den Entscheidungsträgern aller europäischen Staaten und allen europäischen Völkern an dieser Stelle wünschen, dass sich niemand von ihnen jemals in der Situation des ukrainischen Präsidenten und des ukrainischen Volkes befindet.

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