Krieg in der Ukraine:Moskau will Osten und Süden kontrollieren

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Eine Frau geht in Mariupol an einem beschädigten Auto vorbei. (Foto: Victor/dpa)

Ein russischer General nennt die Ziele der Invasion. Scholz erklärt sein Zögern bei Waffenlieferungen. Und UN-Chef António Guterres wird in Moskau erwartet.

Von Andrea Bachstein, München

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat seine Zurückhaltung bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine mit der Gefahr eines Atomkriegs begründet. "Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt", sagte er dem Spiegel in einem am Freitag veröffentlichten Interview. "Ich habe einen Amtseid geschworen. Ich habe sehr früh gesagt, dass wir alles tun müssen, um eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland, einer Nuklearmacht, zu vermeiden", sagte Scholz.

Unterdessen teilte der Kreml am Freitag mit, dass UN-Generalsekretär António Guterres am kommenden Dienstag zu einem Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin nach Moskau reisen wird. Guterres werde sich auch zu Gesprächen mit Außenminister Sergej Lawrow treffen. Der UN-Chef hatte zuvor um ein Treffen mit Putin gebeten.

Eine Feuerpause in der Ukraine zum orthodoxen Osterfest am Wochenende wird es nicht geben. Russland habe einen solchen Vorschlag zurückgewiesen, sagte Ukraine-Präsident Wolodimir Selenskij in seiner nächtlichen Botschaft. Auch die Hoffnung auf Fluchtkorridore für Zivilisten erfüllte sich am Freitag nicht, die Lage sei zu gefährlich, teilte die Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk mit, "haltet durch", sagte sie an die Wartenden gerichtet.

Dass die vollständige Kontrolle über den Donbass im Osten der Ukraine und ebenso über den Süden samt der Schwarzmeerhäfen Ziel Russlands sei, sagte der Vize-Kommandeur des zentralen Militärbezirks Russlands den staatlichen Agenturen Tass und RIA Novosti zufolge. Zwischen der Krim und dem Donbass solle ein Landkorridor entstehen. Von dieser Strategie gingen Beobachter seit Längerem aus.

Wie Generalmajor Rustam Minnekajew in Jekaterinburg demnach weiter mitteilte, werde die Kontrolle über die Südukraine Russland auch Zugang zu Transnistrien öffnen. Diese Region nordwestlich von Odessa gehört zur Republik Moldau und grenzt auch an Rumänien. Von Russland unterstützte Separatisten haben Transnistrien einseitig für unabhängig erklärt, es sind dort auch russische Soldaten stationiert. Die Ukraine nannte Russlands Pläne, den Osten und den Süden zu übernehmen, Imperialismus: "Sie verbergen ihn nicht mehr", erklärte das Verteidigungsministerium in Kiew auf Twitter.

Attacken auch auf die Millionenstadt Charkiw

Die russische Offensive hat sich unterdessen im Osten der Ukraine verstärkt, wie das ukrainische Militär und ebenso der britische Militärgeheimdienst mitteilten. Das russische Militär gab an, in der Region 40 Ortschaften eingenommen zu haben. In der Nacht zum Freitag seien 58 ukrainische Ziele getroffen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Ein BBC-Reporter berichtete aus dem etwa 20 Kilometer von der Front entfernten Slowjansk, dort seien Wohngebiete in der Nacht getroffen worden. Das ukrainische Militär gab an, es habe zehn Angriffe in den Ostregionen zurückgeschlagen und in 24 Stunden 15 russische Militärjets abgeschossen.

In Mariupol, von dem Russland angibt, es ganz erobert zu haben, sollen russische Truppen Zivilisten daran hindern, das belagerte Stahlwerks Asowstal zu verlassen, wie die ukrainische Vizeregierungschefin Wereschtschuk auf Telegram mitteilte. Ihr zufolge wollen sich die Verteidiger weiter nicht ergeben. Es sollen noch etwa 100 000 Menschen in der weitgehend zerstörten Stadt eingeschlossen sein. In einem besetzten Teil Mariupols wagten sich der Agentur Reuters zufolge Bewohner auf die Straßen, Freiwillige in weißen Schutzanzügen und mit Masken hätten Leichen in den Ruinen eingesammelt. Sie wurden auf einen Lkw verladen, der das "Z" trug, das Symbol der russischen Invasoren.

Das Satellitenunternehmen Maxar Technologies veröffentlichte Aufnahmen, die Reihen frischer Gräber neben einem Friedhof in Manhusch zeigen sollen, etwa 20 Kilometer außerhalb Mariupols. Laut Maxar wurden die Gräber Ende März ausgehoben und in den letzten Wochen erweitert. Der Stadtrat von Mariupol schreibt auf, in dem Gräberfeld könnten 3000 bis 9000 Zivilisten liegen.

Auch die teilweise eingeschlossene Großstadt Charkiw im Nordosten wurde heftig bombardiert, Bürgermeister Igor Terechow zufolge befinden sich in der Stadt noch eine Million Menschen. Es würden Wohngebiete angegriffen, sagte Terechow, Zivilisten würden getötet und verletzt, "dies ist kein Krieg von Soldaten gegen Soldaten, sondern die Tötung einer Nation". In der Provinz Charkiw versuchen russische Einheiten offenbar von Isjum nach Süden zu gelangen, um die ukrainischen Truppen im Donbass zu umzingeln.

EU-Ratspräsident Charles Michel telefonierte am Freitag mit Wladimir Putin und verlangte eine Feuerpause. Michel forderte den Kremlchef auf, direkt mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskij zu verhandeln. Wie ein EU-Sprecher mitteilte, schilderte Michel seine Sicht der russischen Fehleinschätzungen und Verluste und betonte, dass der Krieg inakzeptabel sei. Putin wiederum, so berichtete die russische Agentur Tass, habe Michel erklärt, die Ukraine sei nicht bereit zu beidseitig akzeptablen Lösungen. In einer Kreml-Mitteilung hieß es, Putin habe die Politik des Westens in der Ukraine unverantwortlich genannt und Michel vorgeworfen, der Westen ignoriere Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite.

Unterdessen nahm ein Moskauer Bezirksgericht den Oppositionspolitiker und prominenten Kreml-Kritiker Wladimir Kara-Mursa wegen der angeblichen Verbreitung von Falschinformationen über die russischen Streitkräfte in Haft. Der Politiker muss bis zum 12. Juni ins Untersuchungsgefängnis, berichtete die Nachrichtenagentur Interfax am Freitag. Kara-Mursas Anwalt Wadim Prochorow hat Berufung gegen die Entscheidung eingelegt. In Russland sind Berichte über das Vorgehen des russischen Militärs in der Ukraine, die dem offiziellen Standpunkt widersprechen, strafbar.

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